: Gegen das Stammeln eines Volkes
Ein feministisch inspirierter Roman über einen Aufstand in Chiapas ■ Von Elke Schmitter
Der mexikanische Schriftsteller Carlos Fuentes zählt zwei Revolten vor der jetzigen im mexikanischen Südstaat Chiapas, seine Kollegin Rosario Castellanos schon vor Jahrzehnten die doppelte Zahl. In ihrem jetzt übersetzten Roman gibt ein Anwalt in der Provinzstadt Ciudad Real, ein zynisches und hellsichtiges Mitglied der ladinischen (ehemals spanischen) Oberschicht, einem gutgewillten Reformer, den er mit den besten Gründen für naiv hält, herrschaftlichen Nachhilfeunterricht, während der Aufstand vom Gebirge her droht: „Das, was sich da in der Höhle zusammenbraut, ist früher schon einmal geschehen. Lesen Sie in unserer Geschichte nach: Aufstände in den Jahren 1712, 1862, 1917. Warum also nicht jetzt?“
Rosario Castellanos beschreibt diese vierte Revolte, die letzte vor der jetzigen, als eine Wiederholung. Wesentliche Elemente ihrer Erzählung halten sich an jenes Drehbuch brutaler Nachahmungen, das auch heute noch gültig ist. Das Foto der fünf toten Indios (s. taz vom 6.1. 1994), die, mit den Gesichtern im Dreck, auf dem Marktplatz von Oscionge lagen, an Händen und Füßen mit einem Seil verbunden, das auf eine Hinrichtung schließen ließ: wie eine Neuaufnahme vergangener, aber nicht vergessener Verbrechen — und wie ein Kommentar zu der Vermutung des Bischofs Samuel Ruiz, der Armeeinsatz sei „nur das Vorspiel für die völlige Vernichtung der Indios“.
Immerhin die Regierung hat dazugelernt. Die Oligarchie des Südens, die von der Administration in Mexico City – ihren schwankenden Ideologien, ihren Maßnahmen und Gesetzen – von jeher unbeeindruckt war und aus der Entfernung ihrer Ländereien von der Hauptstadt die Gewähr eigener (Un-)Gesetzlichkeit zog, sieht sich im Jahre 1994 schnell und massiv unterstützt von der Armee: Etwa 15.000 Soldaten, mehr als 200 Panzer, dazu Einsätze der Luftwaffe, um, was sich da wehrt, zunichte zu machen. Das war nicht immer so. Ein Großgrundbesitzer klärt den Reformer Fernando Ulloa auf: „...es kam zur Rebellion, bei der Ciudad Real um ein Haar aufgehört hätte zu existieren. ,Aber am Ende haben doch Sie, die Ladinos, gesiegt.‘ ,Ganz bestimmt nicht aufgrund der Hilfe der Regierung, die stets bemüht war, uns Schwierigkeiten zu bereiten. Präsident Jurez, den Sie ja wohl auf einen Altar heben, schickte uns nicht einen einzigen Soldaten, nicht ein einziges Gewehr zu unserer Verteidigung. Eher war Guatemala bereit, uns sein Heer zur Seite zu stellen. Aus reiner Loyalität, einer Loyalität, die Mexiko uns nicht dankt, lehnten wir die Unterstützung der Guatemalteken ab und schlugen uns allein. Wir hatten zahlreiche Verluste, doch was war unser Opfer wert? Ein paar Jahre Frieden und dann eine erneute Bedrohung.‘“
Fernando Ulloa ist Beamter, und er ist eine Ausnahmeerscheinung in Chiapas: Er nimmt seine Aufgabe ernst, und er glaubt an die Gerechtigkeit seiner Mission. Er ist gekommen, um das Land neu zu vermessen: aufgrund der Besitzurkunden der Großgrundbesitzer und jener der Indios, die ihnen Generationen zuvor einmal ausgehändigt worden waren. Er diskutiert mit den Ladinos (denen er sprachlich, kulturell und sozial angehört), aber er läßt sich von ihnen nicht korrumpieren. Er diskutiert mit den Indios (denen er sprachlich, kulturell und sozial entgegengesetzt ist), aber er kann sich ihnen nicht verständlich machen. Angewiesen auf einen Übersetzer, der seine schlichte und sachliche Aufforderung, ihre Urkunden zu übergeben, in eine unklare Ansprache überträgt, rührt er an deren größte Angst: diese Papiere, deren praktische Wertlosigkeit in mythische Bedeutung kompensiert worden ist, an ihn, den Agenten der schlechten historischen Realität, zu verlieren. An dieser Unvereinbarkeit der Sprachen, die von den Individuen nicht zu verantworten – und nicht überwindbar – ist, scheitert der Versuch, Aufklärung ins gewaltsame Dunkel zu bringen: Der Aufstand beginnt.
Wäre dieses Buch nicht von einer Frau geschrieben worden, hätte es damit vermutlich sein Bewenden. Die Form der Erhebung aber – die Evozierung und Bündelung der Kräfte, ihre Energie und ihre Zeichen – wird nicht von einem politischen Führer bestimmt, der vom Mythos des Guerillo zehrt, sondern von einer Seherin, die an die symbolische Auslöschung der Indios erinnert und ihr begegnet: Catalina Diaz.
Catalina ist als Frau eines Stammesführers Mitglied der höchstgeachteten Kaste der Indios, die im Tal von Chamula ihr karges, weitgehend autonomes Leben führen; nur unterbrochen von seltenen Wegen nach Chiudad Real, um dort das Notwendigste zu erhandeln. Aber eine Eigenschaft sorgt für Catalinas Ächtung: Sie kann keine Kinder bekommen; ihre Unfruchtbarkeit gibt ihrem Mann das Recht, sie jederzeit zu verlassen und macht sie zu einer unbrauchbaren Person. Aus Notwehr wird die Stigmatisierte zur Führerin: „Da begann ihr Pilgerweg. Sie wandte sich an die Custitaleros, wanderndes Volk, das im Besitz längst versunkener Weisheiten war. ... In Cancue gab es ein altes Weib, das je nach Wunsch schädliche oder hilfreiche Mächte heraufbeschwor... In Tenejapa machte ein Zauberer von sich reden. ... So schwand Catalina allmählich das Licht vor den Augen, bis sie sich in eine Welt voller Dunkelheit verfing, beherrscht von finsteren Gewalten. ... Bald gehörte sie zu denen, die es wagten, das Mysterium zu schauen. Sie war nun eine Ilol, eine Seherin, deren Schoß ein ganzes Arsenal von Zauberformeln birgt. Wem sie einen bösen Blick schenkte, der erschauderte; ihr Lächeln hingegen verlieh dem, den sie damit bedachte, Kraft.“
Rosario Castellanos, in Mexico City geboren und in den 50er Jahren in Chiapas Professorin für Literatur, beschreibt diese Kraft ihrer Protagonistin, ohne sich ihr zu verschreiben: Catalina bleibt eine sich unwert fühlende Frau, eine vom normalen Leben Ausgeschlossene. Ihr soziales Unglück, ihre Distanz läßt sich nicht aufheben, sie kann nur sublimiert und radikalisiert werden, indem sie die Gesellschaft, aus deren Mitte sie verstoßen wurde, führt. Die Macht, mit der sie diese zutiefst verstörte, düster defensive, schweigsame Gruppe von Indios in den Aufstand führt, rührt in ihrer Verbundenheit zu jenen Symbolen der Identität, die von den Spaniern nicht ganz vernichtet werden konnte: religiöse Motive, die mit sozialer Ordnung und heilendem Wissen verknüpft waren und blieben.
Die bekanntesten Kirchen Europas, vor deren Portalen heute die Reisebusse stehen, um den TouristInnen den beschwerlichen Aufstieg zu ersparen, befinden sich auf ehemals heidnischen Plätzen: erhabene Kultstätten, deren symbolische, sozial wirkende Macht das Christentum nicht nur vernichten, sondern auch unkenntlich machen mußte, um mit der alten Ordnung ebenso das Gedächtnis daran zu zerstören. Dieser Kreuzzug der Vernichtung und Ersetzung war naturgemäß nicht auf Europa beschränkt, er war auch nicht überall gleichermaßen erfolgreich. In der Kapelle von Chamula, dem Hochland von Chiapas, werden die katholischen Heiligen dem vorchristlichen Glauben anverwandelt, mit Kostümen und spirituellen Kräften bedacht, die der reinen Lehre ihre sterile und oppressive Gewalt nehmen. Der dorthin strafexpedierte Priester steht macht- und fassungslos vor einer Gemeinde, die mit selbstbewußter Gleichgültigkeit seine christliche Mühewaltung ignoriert, um heimlich zu einer Höhle zu pilgern, in der Catalina, düster und verschlossen, ihren heidnischen Verrichtungen nachgeht: eine symbolische Sprachfindung gegen „das Stammeln eines Volkes, das sein Gedächtnis verloren hat“. Aber auch auf dem Gipfel ihrer Bedeutung wird sie, die Frau, nicht zur Person, sondern bleibt Medium. Ihr Mann, der Stammesrichter Pedro, tröstet sich über seine scheue Furcht vor Catalinas Macht mit immer demselben Gedanken: „Aber zwischen Mensch und Gott, dachte Pedro, ist die Frau nichts weiter als ein Instrument ohne Bewußtsein.“ Wie sich christliche und nichtchristliche Religion, Europa und Mittelamerika, doch treffen...
Rosario Castellanos hat einen Roman des Typs geschrieben, für dessen Reichweite und Bedeutung die Kritik den leicht abgegriffenen Begriff des „Panoramas“ bereithält: ein Bild der sozialen Wirklichkeit, das alle Gruppen ausmalt. Die ladinische Oberschicht, die ferne Regierung in Mexico City, die katholische Kirche, die Gesellschaft der Indios: die Protagonisten und Opfer des Aufstandes werden mit ihren ideoligischen, ökonomischen und intimen Kalkülen und Zwängen aufklärend und genau beschrieben. Das Überraschende und Seltene ihres Romans aber liegt in der Unerbittlichkeit, mit der sie jenes Gewaltverhältnis sichtbar macht, das alle Antagonismen verbindet: das des Mannes zur Frau. ES
Rosario Castellanos: „Das dunkle Lächeln der Catalina Diaz“. Aus dem mexikanischen Spanisch von Petra Strien-Bourmer (nicht ganz ohne Steifheiten, aber über weite Teile lebendig und prägnant) ins Deutsche gebracht. Europaverlag, 408 Seiten, gebunden, DM...
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