piwik no script img

Aus für amtlich zugelassenen Nervenkitzel

Der Paternoster markiert den Sieg des Homo sapiens über die Vertikale / Bald soll Schluß sein für die rumpelnden Kästen, bei denen der Schritt nach vorn ein sekundenlanger Absprung aus dem Alltag ist  ■ Von Peter Lerch

Ununterbrochen schiebt sich die Endlos-Kabinenreihe an den Förderketten durch den Schacht: auf der einen Seite nach oben, auf der anderen abwärts. Alle zehn Sekunden steht eine Kabine bereit: Der Fahrgast darf wählen. Nach dem Sprung in den Fahrkorb bewegt man sich mit vierzig Zentimetern Geschwindigkeit pro Sekunde auf- oder abwärts. Dann die Schilder: „Hier aussteigen!“ und „Weiterfahrt durch Boden ungefährlich!“ Mengen mistig gewarteten Metalls rumpeln um die Kurve. Die Holzkabine schiebt sich knarrend durch die Dunkelheit. Und während die schweren, öligen Ketten sichtbar werden, fragt man sich bange, ob man nun auf den Kopf gestellt wird.

Paternosterfahren. Das letzte Abenteuer für aus den Bürosesseln quellende Verwaltungsbeamte. Doch bald soll Schluß sein mit dem amtlich zugelassenen Alltagskitzel in Form eines verwegenen Tarzansprungs in und aus der Kabine. Denn Ende 1994 sollen nach einer Bundesverordnung die letzten der Bürokratenbagger durch gewöhnliche Fahrstühle ersetzt werden. Die ohnehin schon selten gewordenen Paternoster gelten als zu gefährlich. Berlin ist besonders betroffen, denn hier gibt es noch fast siebzig Exemplare dieser Aufzüge, die nicht nur den Kaiser, zwei Weltkriege und eine komplette Wiedervereinigung überstanden haben, sondern die auch ein Stück Kulturgeschichte dokumentieren.

Lange bevor die Affen gelernt hatten, mit Stöckchen nach Kokosnüssen zu angeln, benutzten sie Lianen, um sich aus horizontaler Bewegung allmählich der Vertikalen anzunähern. Doch der endgültige Sieg über die Gesetzmäßigkeiten gleichmäßig beschleunigter Auf- und Abbewegungen sollte dem Menschen vorbehalten bleiben. Abgesehen von der historisch umstrittenen Himmelfahrt Christi und den profanen Ambitionen des antiken Mathematikers Pylon von Byzanz, 250 Jahre zuvor die städtische Kloake mittels Eimerketten auszubaggern, liegt der eigentliche Ursprung des Paternosters im alten China. Dort wurden bereits vor rund 3.000 Jahren Endlos-Schöpfscheiben – fan che (Kopfüber-Räder) genannt und dienten zur Wasserförderung.

Die raffinierte, neuzeitliche Erfindung eines Rundumlaufwerks blieb allerdings den Europäern, und zwar dem englischen Techniker Turner vorbehalten. Die Lastkübel wurden nicht mehr im oberen Wendepunkt gekippt, sondern durchliefen in hängender Stellung die Kehre oben und unten. Aus dem Hochtransporter entwickelte sich ein Rundumförderwerk, was bislang dazu diente, loses Schütt- oder Schöpfgut hochzuheben; das konnte nun auch abwärts transportiert werden. Nachdem Turner diese Aufzugsart 1876 erfunden hatte, diente sie zunächst ausschließlich dem Warentransport. Es ist anzunehmen, daß manch victorianischer Youngster – ähnlich heutigen S-Bahn-Surfern – durch die verschiedenen Stockwerke des Londoner Postoffice gondelte, wo Turners Güteraufzug zuerst eingesetzt war. Der Gedanke an eine Personenbeförderungsanlage war naheliegend. Bereits 1880 bauten die Ingenieure J. und E. Hall aus Dartford den ersten Personenumlauf-Aufzug. Was die beiden Ingenieure aus der Grafschaft Kent unter dem Namen „Hart's Cyclic Elevator“ zunächst im Manison House in Kensington einrichteten, erfreute sich alsbald großer Beliebtheit.

Doch besonders erfolgreich war die Einführung im Deutschland der wilhelminischen Ära, wo der Kaiser mit antiquiertem Gottesgnadentum das Land despotisch zwischen verhinderter Demokratie und erfolgreicher Militarisierung samt funktionierender Reichsbürokratie bestimmte. Den Sprung über den Kanal verdankt der Paternoster dem Hamburger Großkaufmann Freiherrn von Ohlendorf, der das moderne Beförderungssystem auf seinen England- Reisen kennengelernt hatte. 1885 läßt er im Hamburger Geschäftshaus Dovenhof den ersten deutschen Paternoster einbauen. Die heute noch funktionsfähige Anlage wurde allerdings schon ein Jahr später wegen notwendig gewordener Sicherheitsvorrichtungen umgebaut, da einige schwerwiegende Unfälle vorgekommen waren.

Die Polizei der Reichshauptstadt Berlin tat sich besonders schwer, den Einbau von Paternostern zu bewilligen. Bedeutete Paternosterfahren doch emanzipiertes Fahren, frei von staatlicher Bevormundung. Das war nicht so einfach im alten deutschen Beamten- und Ordnungsstaat. Offene Kabinen, Fahrten ohne Führer und ohne Schranken, das erregte in einem Land wie Deutschland, wo man gewohnt ist, in allem und jedem die Organe der Aufsichtsbehörden für die persönliche Sicherheit sorgen zu lassen, Verwunderung und bei den Behörden selbst schwere Bedenken, solche Einrichtungen zuzulassen. Noch 1904 verweigerte die Abteilung III des Berliner Polizeipräsidiums der Firma AEG die Anlage eines Paternosters und begründete das „mit einer gewissen Geneigtheit der Bevölkerung von Berlin, von der Polizei überall so weitgehende Vorkehrungen zu erwarten, so daß es der Erwerbung einer besonderen Geschicklichkeit zum Zwecke unbedingter Verkehrssicherheit nicht bedarf“.

Doch die offenbaren Vorteile des Paternosters waren zu groß. Er brauchte keinen Aufzugführer, was bis um 1930, besonders in Geschäftshäusern, durchaus üblich war. Diese Art der Personaleinsparungen waren für ein Geschäftshaus mit mehreren Aufzugsanlagen eine Sache von hoher Rentabilität. Eliminierte damals die Benzinkutsche das bis dahin unerläßliche Pferd, so die Maschine Paternoster den menschlichen Fahrstuhlführer. Eine Paternosteranlage war nicht platzraubender als zwei Liftschächte, und die Betriebskosten machten nur etwa den vierten Teil jener für Aufzüge herkömmlichen Bauart aus. Nachdem technische Sicherungen eingebaut und die Konstruktion vervollkommnet worden war, setzte sich der Paternoster unwiderruflich durch.

Wie kein anderes Gefährt scheint das Paternosterwerk den Vertikalverkehr der Bürokratie zu parodieren. Das ewige Rundenfahren gleicht dem tagtäglichen Verwalten ebenso lausiger wie gleichförmiger Prozesse, bei austauschbarem Gehalt. Keinen ruhenden Punkt zu kennen, keinen Einfluß zu nehmen, das scheint das gemeinsame Prinzip von Umlaufmechanik und preußischer Verwaltungsmaschinerie zu sein. Doch bereits seit dem 31. Dezember 1973 dürfen nach Paragraph 28 der bundesdeutschen Aufzugsverordnung keine Personen-Umlaufaufzüge mehr errichtet werden. In einer Zeit, die beinahe alle Gefahren mechanischer Art abgeschafft hat, ist der Paternoster zum archaischen Relikt geworden. Sein Ende steht zeitlich am Beginn der elektronisch übermittelten und computerüberwachten Befehle. Kein unmittelbarer Kontakt mit der Apparatur ist möglich, die Chip-Steuerung ist Sicherheitspuffer zwischen Benutzer und Aufzugsmechanik geworden. Die umfangreich gesicherte Vertikale anderer Aufzüge läßt die Konzentration der Benutzer sinken, der Paternoster entwickelt sich zur Falle. Immer wieder vorkommende Unglücksfälle beschleunigen seinen Niedergang.

Seine Modernität von 1900 wird sein Anachronismus der heutigen Zeit. Dabei beschränken sich fast alle Unfälle paradoxerweise auf jene Minderheiten, denen eine Benutzung verboten ist: Alte, Gebrechliche, Kinder und Leute, die größere Gepäckstücke zu befördern haben. Und so passieren eben typische Unfälle, wie sie sich variantenreich in den Jahresberichten der Technischen Überwachungsvereine nachlesen lassen: „In einem Berliner Rathaus benutzte ein 77jähriger Rentner den Paternoster zur Abwärtsfahrt vom 3. Etage. Als der am Stock gehende Senior, der infolge eines Ischiasleidens zudem stark in seiner Gehfähigkeit eingeschränkt war, im Erdgeschoß die Kabine verließ, muß er den Halt verloren haben und rückwärts gegen die obere Schürze der benutzten, abwärtsfahrenden Kabine gefallen sein. Die Schürze riß aus den Scharnieren, wobei der Körper des Mannes auf der Kabinendecke liegenblieb und nach unten mitgenommen wurde. Der Mann konnte nur noch tot geborgen werden.“

Den sträflich leichtsinnigen Mißbrauch eines Paternosters zum Lasttransport schildert ein anderer Unfallbericht: „Ein 20jähriger Malergehilfe versuchte mit einer 2,10 m hohen Leiter in die 2,20 m hohe, abwärtsfahrende Kabine eines Umlaufaufzuges hineinzusteigen. Die Leiter wurde von der Decke der Kabine erfaßt und zerbrochen. Beim Weiterfahren rutschte die zerbrochene Leiter nach und verletzte den Gehilfen am Nacken und Rücken.“

Während Aufzüge verbessert und technisch durch stufenlos genaues Anhalten und doppelte Abschlußtüren immer mehr gesichert wurden, blieb der Paternoster von konstruktiver Simplizität. Das kuriose Förderprinzip sträubte sich gegen alle Veränderungen. Sein kontinuierlicher Lauf, der schrankenlose Zugang sperrten sich gegen alle Modernisierungs-Attitüden. Paternoster konnte nur Paternoster bleiben – oder mußte Lift werden!

Noch legen die wenigen verbliebenen Aufzug-Anlagen beredtes Zeugnis ab von einer ruhelos bewegten Zeit der Veränderungen, in der die subjektive Entscheidung über die Fahrtrichtung nicht einer Automatik überantwortet wurde. In Berlin sind derzeit noch 77 Paternoster in Betrieb. Sie drehen im Berolina-Haus am Alexanderplatz, im Rathaus Schöneberg, im Springer-Hochhaus oder im Lichtenberger Arbeitsamt unermüdlich ihre Runden.

Mit der Aufzugsverordnung von 1988 soll die Geschichte der Paternoster mit dem Ablauf des Jahres 1994 zu Ende gehen. Einen Funken Hoffnung gibt es jedoch noch. Inzwischen haben sich in ganz Deutschland Fans des Bürokratenbaggers im „Verein zur Rettung der letzten Personenumlaufaufzüge“, gegründet von der Münchner Baustadträtin Christiane Thalgott, zusammengeschlossen. Und im Bundesland Baden-Württemberg dürfen alle, die einen gefahrlosen Betrieb des Paternosters garantieren können, eine Ausnahmegenehmigung beim zuständigen Gewerbeaufsichtsamt beantragen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen