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El Hombre Invisible

Alter Herr mit Draht zur Jugend. Burroughs' komplexes Image  ■ Von Barry Miles

William Burroughs bewohnt ein kleines einstöckiges, mit weißen Brettern verschaltes Holzhaus in der Kleinstadt Lawrence, Kansas, das auch schon bessere Zeiten gesehen hat. Es ist mit Fliegengittertüren und einer Veranda ausgestattet, die auf einen kleinen, grasbewachsenen Vorgarten hinausgeht, wo in dem Baum neben der Einfahrt vier Eichhörnchen hausen. Mehrere Katzen streifen gemächlich über den Rasen und ums Haus herum, wo ein Entwässerungsgraben die Grundstücksgrenze bildet.

Im Haus herrscht eine wohnliche, lebendige Atmosphäre; das abgenutzte Mobiliar gibt dem Ganzen etwas sehr Legeres, die Bücherregale sind vollgestopft mit Büchern und Zeitschriften. Eine mächtige graue Katze schläft oben auf dem Kühlschrank, eine andere, mit langem Fell, hat es sich auf dem ramponierten, alten Sofa bequem gemacht. Es fühlt sich ganz wie ein Zuhause an, das erste richtige Zuhause, das Bill in vielen Jahrzehnten hatte. Auf jeder freien Fläche stapeln sich Zeitschriften: Gun Test, Gun World, American Survival Guide, UFO Universe, Soldier of Fortune, National Geographic sowie Subskriptionsexemplare der International Herald Tribune, Bills bevorzugtes Blatt aus Londoner und Pariser Tagen. Die Bücher in den Regalen stehen in zwei Reihen hintereinander oder sind aufeinandergestapelt: „Basic Stick Fighting for Combat“, „Deadly Substances“, „Firearms of the American West“, „How to Kill, Vol.V“, „Life History and Magic of the Cat“, „The Complete Book of Cats“...

Heutzutage wird man Burroughs eher im blauen Arbeitshemd, schlottrigen Blue jeans, mit Schirmmütze und einer zu großen Jacke aus olivgrünem Baumwolldrillich antreffen, als in dem gepflegten, unauffälligen Straßenanzug früherer Jahre. Der Anzug diente stets dazu, Anonymität zu wahren, aber in Kansas gibt es, will man unbemerkt durchgehen, nichts Besseres, als sich aus dem L.L.-Bean-Katalog zu kleiden.

An normalen Tagen wacht er um acht Uhr morgens auf, bleibt aber bis neun im Bett, bis einer der jungen Männer der William Burroughs Communications eintrifft, um ihm das Frühstück zu bereiten. Auf einem über der Küchenanrichte befestigten Dienstplan steht, wer seiner vier Assistenten ihm das Frühstück macht und wer am Abend kochen wird. Um das Mittagessen, bestehend aus Milch und Crackers, kümmert er sich selbst. Sofern sein Büro keine Verabredung für Besucher getroffen hat, füttert er seine Katzen und macht sich dann – je nachdem, wonach ihm der Sinn steht – ans Malen oder Schreiben, ohne daß er sich etwas Besonderes vorgenommen oder geplant hätte.

An schönen Tagen kommt es vor, daß er seinen Freund Fred besucht, um sich auf dessen Stück Land im Scheibenschießen zu üben. Fred wohnt außerhalb der Stadtgrenzen, und Bill fährt ihn in der Regel drei-, viermal im Monat besuchen. Einmal die Woche fahren er und Sekretär James Grauerholz nach Kansas City. Um Punkt vier Uhr trinkt er seinen ersten Wodka mit Coca-Cola, beides wird in Jumbo-Plastikflaschen im naheliegenden Supermarkt eingekauft. Das Abendessen wird zeitig eingenommen. Häufig sitzen James und andere Freunde aus Lawrence mit am Tisch, und normalerweise liegt Bill um neun Uhr abends im Bett.

Seit mehr als einem Jahrzehnt hat Bill keinen festen Boyfriend mehr, und er sagt, das Interesse an Sex habe er verloren. Zuweilen bleibt ein durchreisender Fan über Nacht, doch seine wahre Liebe gilt einzig seinen sechs Katzen: „Ich liebe meine Katzen, ich liebe meine Katzen“, summt er, eine Spur sentimental, vor sich hin. „Ich liebe alle Katzen.“

Auch wenn man ihn „den größten amerikanischen Schriftsteller seit Ende des Zweiten Weltkrieges“ nannte und er Mitglied der Academy of Arts and Letters ist, so ist es stets das ihm von der Presse aufgedrückte Image des homosexuellen Junkie-Pornographen, der in einer bizarren Wilhelm-Tell- Nummer seine Frau erschoß, was ihn bis auf den heutigen Tag so faszinierend macht.

Die Öffentlichkeit hat auf Burroughs' Werk generell heftig reagiert. Seine Bücher wurden, weil zu pornographisch, verboten und als postmoderne Dekonstruktion in Reinkultur gelobt; er wurde von der Jugendbewegung als Revolutionär gepriesen, als Streiter für die Rechte der Schwulen gefeiert, als Frauenhasser verdammt und für seine Begeisterung für Schußwaffen wie auch seine Mitgliedschaft in der National Rifle Association kritisiert. Was er auch schreibt oder sagt, irgendwie wird es irgendwem immer kontrovers vorkommen.

William Burroughs hat mehr Einfluß auf die Pop-Kultur als auf Literatur gehabt. Seine Ideen, seine Bilder und seine Sprache haben die allgemeine Bevölkerung auf weitgehend nichtliterarischem Weg errecht: über Filme, Videos, Schallplatten oder über das Werk zahlloser Künstler, die von seinen Bildern und Ideen beeinflußt wurden. Seine Ideen sind zu Menschen gelangt, die niemals seine Bücher gelesen haben und die ihn einfach für eine Berühmtheit halten.

Sein Werk hat einen beträchtlichen Einfluß gehabt auf das eher literarische Ende des Rock-'n'-Roll- Spektrums, und seine Bildersprache ist bis in das moderne Kino gesickert. Die faszinierende Eigenschaft der Einzelperson Burroughs funktioniert wie eine Art Katalysator, der Dinge ins Rollen bringt, der andere inspiriert, Dinge anzugehen, obwohl er selbst es vorzieht, ein beschauliches Leben mit einem Kreis von handverlesenen Freunden zu führen. Es ist die Idee Burroughs, die Anklang findet, nicht die Person; der populäre Burroughs, die Kult-Ikone, kommt auf dem Wege gedruckter und elektronischer Medien zu ihnen. Dieser Burroughs ist der Mann, der den Abgrund sah und zurückkehrte, um davon zu berichten. Burroughs, el hombre invisible.

Bereits bevor er zu schreiben begann, war Burroughs der Inbegriff von cool. Sein Umgang mit Drogen, sein sardonisches Auftreten und sein Interesse an Randgebieten der Wissenschaft machten ihn für Studenten der Columbia University – unter ihnen Jack Kerouac und Allen Ginsberg, die sich Mitte der vierziger Jahre zu ihm als einem Lehrer hingezogen fühlten – zu einem modernen Coleridge. Burroughs war es, der sie mit Hart Crane und Céline, mit Spengler und dem Grafen Korzybski vertraut machte.

Obwohl Burroughs' erstes Buch „Junkie“ 1953 erschien, war es „The Naked Lunch“, das die Aufmerksamkeit der cognoscenti in Avantgarde- und Hipster-Kreisen auf sein Werk lenkte. Sie stießen auf einen pikaresken, Swiftianischen Satiriker, eine vernichtende Attacke wider die Heuchelei in Politik, Wissenschaft und Big business, durchdrungen von Kifferhumor und einigen der denkwürdigsten Charaktere der modernen Literatur überhaupt: Dr. Benway, Dr. „Fingers“ Schafer, den „Lobotomy Kid“, A.J., und natürlich William Lee, des Autors Alter ego. Das Buch begründete Burroughs' Reputation. Es wurde in Boston verboten und kam mit knapper Not erst in einem Berufungsverfahren durch, das für die folgenden

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Jahrzehnte die amerikanischen Obszönitäts-Maßstäbe setzen sollte. Natürlich wirkt sich ein solcher Prozeß positiv auf die Verkaufszahlen aus, und er verlieh dem Buch einiges an Profil, obwohl Burroughs es vorgezogen hatte, den Gerichtsterminen fernzubleiben. Heute ist „Naked Lunch“ in sechzehn Sprachen lieferbar.

Zum Zeitpunkt der ersten Veröffentlichung von „The Naked Lunch“ begeisterten sich seine frühen Leser daran, daß der Mensch, der sich hinter dem Namen Burroughs verbarg, ebenso außergewöhnlich war wie sein Buch: ein Homosexueller, der seine Frau erschossen hatte und im selbstauferlegten Exil in Europa und Nordafrika weilte. In den frühen sechziger Jahren galten die großen amerikanischen Aktiengesellschaften als ein Inbegriff von Respektabilität, folglich wurde die Tatsache, daß Burroughs ein Großsohn des Gründers der mächtigen Burroughs Corporation war, mit stiller Genugtuung aufgenommen.

Fotografien aus dieser Zeit zeigen eine hagere, aristokratische Gestalt in mittleren Jahren mit einem knochigen Gesicht, in Straßenanzug und Krawatte, häufig in einen einreihigen Mantel mit samtenen Aufschlägen gehüllt. Im Nu wurde er zum berühmten lebenden Junkie-Schriftsteller.

Burroughs' Jahrzehnt als eine Medienberühmtheit brach erst mit der New Yorker New-Wave- Avantgarde gegen Ende der siebziger Jahre an, nachdem er Anfang der siebziger Jahre als verlorener Sohn nach Amerika zurückgekehrt war. Lauren Hutton kündigte ihn im Dezember 1981 in der TV-Show „Saturday Night Live“ als den „meiner Meinung nach größten lebenden amerikanischen Schriftsteller“ an. Die Punkrock- Sängerin Patti Smith verkündete, er sei „dort oben, gleich neben dem Papst“. Frank Zappa las die Passage vom Redenden Arschloch live auf der Bühne, und Burroughs wurde von Schriftstellerkollegen und Anhängern gefeiert, geehrt und mit Trinksprüchen bedacht.

Die Gründe für eine derartige Verherrlichung waren indes nicht so klar. Wie bei Ginsberg vor ihm, hatten sich nicht gerade viele Fans in sein Werk vertieft; was für sie zählte, war einfach sein Image: der gepflegt auftretende, keinerlei Gefühlsregungen zeigende ältere Herr im Business-Look – kurzgeschnittenes Haar, Anzug und Krawatte –, der mit allen möglichen Drogen experimentierte und Dinge von sich gab, bei denen ihren Eltern der Schaum auf die Lippen trat. Es war ein komplexes Image, ein Image, das selbst Burroughs ambivalent vorkam.

Einer der frühesten und möglicherweise bleibendste Hinweis auf Burroughs' Ansehen in Rockmusikkreisen ist seine Präsenz auf dem Plattencover von „Sergeant Pepper's Lonely Hearts Club Band“, das die Beatles vor lebensgroßen ausgeschnittenen Fotos von Leuten zeigt, die sie persönlich mochten und bewunderten. Burroughs wurde von Paul McCartney ausgesucht. Nachdem ihm so viel anerkennende Zustimmung durch die Beatles zuteil geworden war, konnte Burroughs nicht länger als eine obskure Gestalt betrachtet werden; seine Präsenz auf dem „Sergeant Pepper“-Cover trug zweifellos dazu bei, daß sein Werk vielen nähergebracht wurde, die es sonst niemals gelesen hätten. (Ein Schlüssel zum Identifizieren der Personen auf dem Plattencover erschien in zahlreichen Fan-Magazinen und Büchern.)

Ein anderer, „The Naked Lunch“ entliehener Begriff ist „heavy metal“. Die Wendung „heavy metal thunder“ wurde erstmals in einem Text der Gruppe Steppenwolf verwendet, und zwar in der 1968er Hardrock-Hymne „Born To Be Wild“; sie wurde weiter popularisiert, als der Song in den Soundtrack des Kultfilms „Easy Rider“ einbezogen wurde. Und als Donald Fagan und Walter Becker 1972 auf der Suche nach einem Namen für ihre neue Band waren, schwebte ihnen etwas vor, das hip und amüsant sein sollte; klar, daß sie sich William Burroughs vornahmen und den perfekten Namen fanden: Steely Dan – den Namen eines Dildos in „Naked Lunch“. Somit hatte der Name gar noch den Vorteil einer versteckten Bedeutung, die zu kennen die Fans sich rühmen konnten:

„Mary schnallt sich einen Gummipenis um. 'Steely Dan III aus Yokohama‘, sagt sie und massiert den Schaft. Milch spritzt quer durchs Zimmer. 'Sieh zu, daß diese Milch pasteurisiert ist. Häng mir bloß nicht irgend ne gräßliche Kuhkrankheit an, sowas wie Milzbrand

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oder Rotz oder Maul- und Klauenseuche...‘“

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, daß Burroughs, trotz seiner enormen Popularität unter Rockmusikern, wenig oder nichts über Rockmusik weiß und sie niemals zum Vergnügen hört. „The Naked Lunch“, das früher einmal den Arbeitstitel „Word Hoard“ („Wort- Hort“) trug, wurde zu einer wahren Fundgrube für Wörter und Wendungen für Rockmusikbands, allerdings verlief der Verkehr vorwiegend in einer Richtung.

David Bowie zeigt in einem berühmt gewordenen BBC-Dokumentarstreifen von Alan Yentob, wie er die Texte für sein 1974 erschienenes Album „Diamond Dogs“ verfaßte: „Ich wende Burrouhgs' Cut-up-Technik an“, erläuterte er. Die Kamera fuhr nahe heran, um Bowie zu zeigen, wie er Textblätter der Mittellinie entlang durchriß und die Seitenhälften gegeneinander schob, um neue, durch die Nebeneinanderstellung entstandene Zeilen zu finden.

Ein Grund dafür, daß die Sechziger-Jahre-Gruppen von Burroughs wußten und ihn schätzten, war der, daß er in der Untergrundpresse jener Jahre ständig mit Textbeiträgen und Besprechungen vertreten war. Die meisten der sogenannten „progressiven“ Bands hatten ihren Ursprung in den Underground Clubs und waren, was Besprechungen und Promotion anging, in hohem Maße von der Untergrundpresse abhängig. Selbst zehn Jahre nach der Erstveröffentlichung war „The Naked Lunch“ immer noch jene Art Kultbuch, das eine Gruppe schon mal mitnahm, wenn sie in der Abgeschiedenheit ihres Landhauses in Wales versuchte, „ihr Ding auf die Reihe zu kriegen“. In den ausgehenden siebziger Jahren waren die Punks an der Reihe, Burroughs' Werk zu entdecken, und eine bisher unbekannte Schar Bands fiel über seine Bücher her, um sie nach geeigneten Namen zu durchforsten. Burroughs stand dem äußerst zurückhaltend gegenüber.

„Ich bin kein Punk, und ich habe keine Ahnung, wie jemand darauf kommen könnte, mich für den Paten des Punk zu halten. Ich schätze, die ganze sogenannte Punk-Bewegung ist sowieso eine Schöpfung der Medien. Allerdings habe ich ein Unterstützungsschreiben an die Sex Pistols in England geschickt, denn ich habe ja schon immer gesagt, daß das Land so lange keine Chance hat, bis 20.000 Leute ,Schändet die Queen‘ rufen.“

Rock 'n' Roll ist stets eine Musik Andersdenkender, eine Musik der Rebellion gewesen, und davon hat es in Burroughs' Werk mehr als genug. Auf die Love-and-Peace-Masche der sechziger Jahr ist Bill nie sonderlich scharf gewesen; in einem Interview mit Jeff Shiro äußerte er: „Die für mich einzig gültige Art und Weise, einem Polizisten eine Blume zu überreichen, wäre in einem Blumentopf aus einem hochgelegenen Fenster.“ Damit konnten die Punks was anfangen. Sogar die Post-Punks fühlen sich zu ihm hingezogen. Die Sonic Youth, im New York der achtziger Jahre Bindeglied zwischen Velvet Underground und Noise Music, treten auf William Burroughs' 1990 erschienener CD „Dead City Radio“ auf. (Weitere Künstler sind John Cale – ehemals Velvet Underground, Donald Fagan – ehemals Steely Dan sowie Chris Stein – ehemals Blondie). Auf dieser Platte gibt Bill eine denkwürdige Probe seines Könnens ab: Er singt die deutschsprachige Version von „Falling In Love Again“ – „Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt...“ – sein erfolgreichster Exkurs ins Plattengeschäft.

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