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Wunderwerk an Präzision

■ Christoph Marthalers zweite Faust-Adaption, diesmal nach Fernando Pessoa, hatte am Sonnabend Hamburg-Premiere

Schlag nach im Programmbuch. Denn dort wird alles erklärt. Ihm ist zu entnehmen, daß Fernando Pessoas „Faust“-Fragment eigentlich gar kein Stück, sondern eher ein Gedicht ist, ein lyrischer Traum, der sich um die Figuren rankt. Weshalb Christoph Marthalers Inszenierung, seit Samstag als Wiederaufnahme aus Basel im Malersaal zu sehen, seltsam undramatisch daherkommt. Pessoa schrieb, so lesen wir weiter, unter seinem eigenen und dem Namen dreier Pseudonyme, für die er komplette Lebensläufe entwarf. Weshalb Marthaler – ähnlich wie in seiner Adaption von Goethes „Faust“ – den Text auf verschiedene, hier vier Figuren verteilte.

Zudem ist im Programmheft eine Fotografie abgebildet, die Pessoa als Flaneur zeigt, mit Hut, Brille, grauem Trenchcoat, Fliege und dunklem Anzug. Weshalb die vervierfachten Pessoas der Aufführung Hut, Brille, grauen Trenchcoat etc. tragen. Ein anderes Bild zeigt Pessoa in einer Bar. Er steht an einer hölzernen Theke, hinter ihm ist die Wand entlang eine Reihe Rotweinflaschen aufgereiht. Weshalb das Bühnenbild eine Bar darstellt: vier Holztische, eine hölzerne Theke und die Wand entlang aufgereihte Rotweinflaschen.

Schlag nach. Oder laß es. Denn alles, wirklich jede Kleinigkeit läßt sich mit dem Programmbuch erklären. Nur eins nicht: der Zauber dieser Aufführung. Der hat wenig mit Pessoas kafkaesk anmutendem, spannend-unspannendem Leben zwischen Angestelltendasein und Weltliteratur zu tun und zunächst auch wenig mit seinen Texten. Der hat andere Gründe: zum einen das brillante Ensemble, das kleine Wunderwerke an Präzision vollbringt, zum anderen den Regisseur.

Christoph Marthaler ist ein begnadeter Hersteller von Atmosphäre. So wie andere Leute mit Farbe, versteht er es, mit der Zeit zu malen: sie zu dehnen, dabei die Spannung zu halten und sie plötzlich wieder zu verdichten. Und mit einer genauen Mischung aus Pathos und Pointe nimmt er den zwischen Lebensangst und Todessehnsucht, zwischen Todesangst und Lebenssehnsucht flirrenden Pessoa-Sätzen die Schwere, bis sie ganz leicht werden, bis sie zu schweben und zu tanzen beginnen.

Apropos Zeit: In der Aufführung ist es knapp zwei Stunden lang 19.30 bis 20.15 Uhr. Die Stunde, da die Nacht beginnt. Die Stunde, da Pessoa gerne ein Fläschchen trank, bis er (siehe Programmbuch) 47jährig an Leberzirrhose starb. „Ich will ... verstreuen mich und untergehen“, so heißt es in seinem „Monolog an die Nacht“. Marthaler ordnet die Verstreuungen Pessoas nicht. Er bringt sie in Bewegung. Will man seine Art, Theater zu machen, auf den Begriff bringen, bietet sich dieser an: Wörtertanztheater.

Dirk Knipphals

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