■ In Sarajevo tötete eine Granate 68 Menschen
: Dreifaches Todesurteil

In schweigendem Gedenken an die unschuldigsten Opfer des scheußlichsten Verbrechens in meinem Sarajevo sitzen oder schreiben: über sechzig Menschen umgebracht, über hundert schwer verletzt, mitten auf dem Marktplatz dieser Stadt, nahe der Kathedrale im Herzen der Altstadt von Sarajevo? Kaltblütige Mörder richteten letzten Samstag die tödlichen Geschosse ihrer 120-Millimeter-Granatwerfer auf den traurigsten Ort der verlassensten Stadt der Welt. Ein Markt, auf dem, verzweifelte Menschen – alte Männer und Frauen, Mütter mit Kindern, unbewaffnete Zivilisten – auf der Suche nach Dingen sind, die sie seit fast zwei Jahren nicht mehr kennen. Das schwerste Massaker unter den vielen, die von den serbischen Belagerern an den Zivilisten der bosnischen Hauptstadt verübt wurden. CNN-Kameras am Ort des Verbrechens haben die wütenden Schreie aufgezeichnet: „Vielen Dank, Ghali, herzlichen Dank, Präsident Clinton!“

Natürlich meinen sie nicht, diese beide Führer hätten den Mord begangen – in Sarajevo wissen schon die Kinder sehr genau, wer auf sie schießt, im Unterschied zu den Medien, die regelmäßig melden, daß „die Muslime die Serben beschuldigen und die Serben die Muslime“, obwohl es keinerlei Grund für die aberwitzige Vorstellung gibt, die Muslime massakrierten ihre eigenen Kinder –, aber aus diesen Schreien sprechen der Schock und die Ungläubigkeit der Einwohner von Sarajevo darüber, daß jene, die die Verbrechen verhindern könnten, untätig zuschauen. Kaum drei Wochen nachdem der Nato-Gipfel in Brüssel den Serben wieder mal mit Luftangriffen drohte, falls die Einschnürung Sarajevos weitergehe oder falls sie die Öffnung des Flughafens Tuzla verhinderten oder die Ablösung kanadischer Friedenshüter in der belagerten Stadt Srebrenica.

Präsident Clinton sprach mir aus dem Herzen, als er die Nato- Führer warnte, diese Drohung nur zu benutzen, wenn sie es ernst meinten. Aber wenn ihnen diese einstimmig verabschiedete Erklärung ernst war, dann hätten sie schon am Tag nach dem Gipfel handeln müssen. An jenem Tag beschossen die Serben Sarajevo und ermordeten weitere neun Zivilisten.

Und seitdem wurden die verantwortlichen Führer der Welt noch weitere drei Mal herausgefordert.

Vor zwei Wochen tötete eine serbische Granate sechs Kinder, die vor den Häusern des Arbeiterviertels Alipasino Polje Schlitten fuhren.

Am Freitag explodierte eine weitere serbische Granate in dem Wohnviertel Dobrinja, das vor zehn Jahren als olympisches Dorf für die Olympischen Winterspiele in Sarajevo errichtet wurde, und tötete acht Menschen, fast nur Frauen, in einer Schlange vor einer Verteilungsstelle.

Und was dann am Samstag geschah, haben alle gesehen.

Was sich in Sarajevo ereignet, ist nicht einfach die Strangulierung aus der Nato-Erklärung oder aus dem Oktober-Brief des US-Außenministers Warren Christopher an den serbischen Präsidenten Milošević, der mit Luftangriffen drohte, falls die Strangulierung Sarajevos nicht beendet würde. Es ist viel schlimmer.

Über meine Stadt ist ein dreifaches Todesurteil verhängt. Erstens das der serbischen Artilleristen, die Wohnviertel, Marktplätze, Krankenhäuser beschießen und hilflose Bürger ermorden. Zweitens das des Elends: Sarajevo ist eine fensterlose, unbeheizte Stadt mitten im zweiten Winter des Terrors – ohne Nahrung, Wasser, Elektrizität oder Gasversorgung. Drittens das der internationalen Gleichgültigkeit, denn die zivilisierte Welt sieht einfach zu, wie wir ausgelöscht werden, bringt nicht den Willen auf, uns zu helfen, und verhängt ein Waffenembargo, um uns sogar das Recht auf Selbstverteidigung zu nehmen. Nichts macht diese Gleichgültigkeit gegenüber der bosnischen Tragödie deutlicher als die Tatsache, daß das Waffenembargo – das die Opfer hindert, sich zu wehren – als einzige internationale Resolution in Bosnien tatsächlich durchgesetzt wird.

Und was dieser Stadt und diesem Lande geschieht, ist kein Bürgerkrieg. Es ist vielmehr der Krieg gegen die Zivilisation des Zusammenlebens in einer toleranten Gesellschaft vieler Völker, Religionen und Kulturen. Mit der Belagerung und Vernichtung Sarajevos töten Karadžićs Serben diese Zivilisation und diese Werte; die Mitarbeiter meiner Zeitung Oslobodjenje – mein serbischer Stellvertreter, der serbische Kolumnist, serbische Reporter – hätten keine Probleme, zu erkennen, wer hier die Guten sind, wer die Bösen. Die zivilisierte Welt hätte dem Mord an Bosnien und seinen Menschen schon vor langer Zeit ein Ende machen müssen. Untätigkeit läuft auf Mitschuld an einem Verbrechen hinaus. Und sie hilft dem Faschismus, sich über den Balkan und Europa zu verbreiten, bis er „nationale Sicherheitsinteressen“ verletzt, und dann wird er viel schwerer aufzuhalten sein als jetzt.

Was wäre zu tun? Drei Dinge in drei einfachen Worten: Aufheben, bewaffnen, zuschlagen. Das gegen das angegriffene Land verhängte Waffenembargo aufheben, um ihm eine Chance zur Selbstverteidigung zu eröffnen. Die Bosnier bewaffnen, die dem Terror der schweren Waffen der jugoslawischen Armee ausgesetzt sind. Und Luftangriffe gegen die Artilleriestellungen, aus denen Sarajevo und andere bosnische Städte seit fast zwei Jahren terorrisiert werden. Das könnte zu einem Gleichgewicht der Kräfte beitragen, zu einer günstigeren Atmosphäre für echte Friedensverhandlungen anstelle der gegenwärtigen Erpressung Bosniens, das die durch Gewalt geschaffenen Fakten hinnehmen soll – die Teilung des Landes entlang ethnischer Grenzen, aus der neue Zeiten ethnischer Spannungen, Gewalttaten und sogar Vertreibungen erwachsen werden. Kemal Kurspahić

Chefredakteur der in Sarajevo erscheinenden Tageszeitung „Oslobodjenje“ (aus dem Eng-

lischen von Meinhard Büning)