Die Angst vor dem Rausch

Das Modell „Heroin auf Krankenschein“ wird in Frankfurt am Main zum wahlkampfwirksamen Streitpunkt / Heroinvergabe soll therapieverweigernden Alt-Fixern das Überleben ermöglichen  ■ Von Heide Platen

Das Schreiben kam Mitte Januar und machte Furore. Das Bundesgesundheitsamt (BGA) in Berlin hatte die Stadt Frankfurt „ausgebremst“ und deren international hochgelobte Drogenpolitik kritisiert. Gesundheitsdezernentin Margarethe Nimsch (Die Grünen), sonst eher für damenhafte Contenance bekannt, fand harsche Worte für die Ablehnung eines wissenschaftlichen Forschungsprojektes. Sie warf dem Amt „Verweigerung dringend gebotener Überlebenshilfe“ und „fachliche Inkompetenz“ vor. Daß sie mit dem Antrag, Langzeitsüchtige unter ärztliche Aufsicht mit Heroin zu versorgen, politischen Gegenwind bekam, wundert sie nicht. Irgendwie sei schließlich „immer Wahlkampf“.

Der „Frankfurter Weg“ basiert auf übergreifender Zusammenarbeit von Behörden und Organisationen, die sich seit fünf Jahren wöchentlich zur „Montagsrunde“ treffen. Ziel ist die Verbesserung der körperlichen und sozialen Situation der Süchtigen. Das jetzt abgelehnte Projekt „Heroin auf Krankenschein“ ist, nach einem umfassenden Methadon-Programm, eine weiteres Diskussionsergebnis und speziell für bisher therapieresistente, das Methadon- Programm verweigernde „Alt-Fixer“ entwickelt worden.

Der spektakuläre Auftakt zur Umsetzung des „Frankfurter Weges“ sorgte seinerzeit auch für böses Blut in den eigenen Reihen der grünen Dezernentin. Auf Kreisversammlungen ihrer Partei mußte sie sich Verdrängungspolitik vorwerfen lassen, als Stadt und Polizei begannen, die „Fixer-Meile“ in der Taunusanlage aufzulösen. Dort setzten sich täglich rund 1.000 Junkies ihren Schuß im Schatten der glitzernden Bankpaläste. Der medienwirksame Kontrast fand sogar in Reiseführer Eingang. Kritiker vermuteten hinter der Auflösung der Szene eine neue, noch aus CDU-Regierungszeiten allzu bekannte, Fortsetzung der Säuberungspolitik, die die Fixerszene vom Opernplatz immer weiter in Richtung Hauptbahnhof getrieben hatte. Sozialarbeiter und LehrerInnen pochten auf den „Zusammenhalt“ der Fixersubkultur. Nimsch reagierte barsch: „Von wegen. Die Szene war doch nur fest in der Hand der Dealer.“ Parallel zur Auflösung in der Taunusanlage entstand eilig ein Hilfs- und Auffangprogramm.

Polizeisprecher Karl-Heinz Reinstädt ist des Lobes voll: „Stadt und Polizei sind den Weg miteinander und nicht gegeneinander gegangen.“ „Kurzfristig und in einem Kraftakt“ seien drei Krisenzentren entstanden, in denen „niederschwellige“ Betreuung stattfinde. Die Betreuung, „und wenn es nur eine heiße Brühe ist oder die Gelegenheit zum Duschen“, habe den „unsäglichen, desolaten Gesundheitszustand der kranken Menschen enorm verbessert“: „Die, die früher im Gebüsch, in der Gosse, im U-Bahnschacht gestorben sind, können wir jetzt dem Tod rechtzeitig von der Schippe nehmen.“ Tatsächlich ist die Zahl der Drogentoten in der Stadt seit 1991 um die Hälfte pro Jahr 1993 gesunken. Auch die Beschaffungskriminalität ist meßbar geringer geworden. Die „ständige Überwachung, rund um die Uhr“ garantiere, daß auswärtige Dealer sich nicht mehr so breitmachen könnten. Reinstädt: „Man muß zur Kenntnis nehmen, daß in Frankfurt 100 bis 150 Leute keinem anderen Programm mehr zugänglich sind.“ Er wehrt sich gegen „Schindluder mit den Begriffen“. Es gehe in seiner Behörde nicht um die „Freigabe“ von Drogen, „sondern um eine kontrollierte Behandlung schwer kranker Menschen“.

Für das damals umstrittene Methadon-Programm habe sie, erinnert sich Nimsch, „auch Überzeugungsarbeit leisten müssen“. Rund 800 Frauen und Männer werden inzwischen regelmäßig mit der Ersatzdroge versorgt. Bei vielen hat sich der Gesundheitszustand verbessert, sie können einer Arbeit nachgehen, die Beschaffungsprostitution und die Fälle für die Notaufnahmen sind gesunken, gebrauchte Spritzen werden umgetauscht, sieben Ambulanzen sind im Einsatz.

In einer ehemaligen Fabrik im Ostend treffen sich täglich bis zu 800 Fixer. Sie haben dort Aufenthaltsräume und können übernachten. Nach Schweizer Modell sollen „Fixer-Stuben“ für User entstehen. Oberstaatsanwalt Körner, Mitglied in der „Montagsrunde“, stellte in einem Gutachten klar, daß es seiner Meinung nach nicht gegen geltendes Recht verstoße, wenn in solchen „Gesundheitsräumen“ gefixt, nicht aber gedealt werde. Amtsgerichtspräsident Manfred Wick registrierte einen Rückgang der Rauschgiftverfahren. Er bedauerte die Blockade des Bundesgesundheitsamtes für den Heroin-Versuch ebenso wie die Vorsitzende der Arbeitsgruppe Drogen in der Bundes-FDP. Auch der Stuttgarter Polizeipräsident Volker Haas hatte sich Ende Januar noch einmal für eine kontrollierte Heroinabgabe an Schwerstabhängige ausgesprochen. Er wies im Spiegel auf den verhängnisvollen Kreislauf hing, an dem konventionelle Drogenbekämpfung scheitere. Beschlagnahme von Rauschgift und Festnahme von Dealern führe sofort zu höheren Preisen für den Stoff und damit zu mehr Kriminalität. Er machte „Bewegung“ in der Diskussion aus, nachdem sich außer Hamburg auch die CDU-regierten Kommunen Karlsruhe und Stuttgart für den „Frankfurter Weg“ ausgesprochen haben.

Währenddessen mäkelte die CDU-Opposition im Römer am Heroin-Programm und an der Dezernentin herum. Wenn der „Frankfurter Weg“ so beispielhaft sei, könne sie doch die Reisekosten für die Besichtigung von anderen Projekten in Europa und den USA einsparen. Sie fragte außerdem, wo denn bei der reinen „Überlebenshilfe“ die „Angebote zur Erreichung der Abstinenz“ für ein „drogenfreies Leben“ blieben. Der Vorsitzende der Landtagsfraktion, Wagner, fürchtete um ein Sinken der Hemmschwelle, wenn „der Staat als Dealer auftritt“.

Heroin, stellte sich auch das BGA stur, sei nun einmal kein Medikament und diene nicht „der Rückführung der Patienten zu einem drogenfreien Leben“. Die angestrebte Verbesserung des gesundheitlichen Zustandes allein reiche ebensowenig zur Genehmigung aus wie die Prävention gegen Infektionen und Kriminalität. Heroin sei nach dem Betäubungsmittelgesetz (BtMG) „grundsätzlich nicht verkehrsfähig“ (Anlage I). Eine, nach Paragraph 3 mögliche, Ausnahme „zu wissenschaftlichen und anderen im öffentlichen Interesse liegenden Zwecken“ könne nicht gemacht werden. Daß das BGA Daten aus Methadon-Programmen heranzieht, die auch nicht zur „Drogenfreiheit“ geführt hätten, zeigt die grundsätzliche Kontroverse. Drogentherapie müsse, so das Gesundheitsamt, „lindern und heilen“. Drogenfreiheit aber könne „unstreitig nicht primär durch medikamentöse Verabreichung eines Betäubungsmittels erreicht werden“. Immerhin habe Methadon (hier Lavomethadon) eine verminderte „euphorisierende Wirkung“. Warum aber solle ein Süchtiger, fragt das BGA in puritanischer Unkenntnis des harten Fixeralltags, der gratis Heroin und damit seinen „Flash“ bekomme, je auf die Droge verzichten wollen?

Der Hinweis der AutorInnen, daß Zwangstherapien mit rund 70 Prozent Rückfallquote auch nicht eben effektiv sind, nützte da nichts. Ihr „vorrangiges Ziel“ ist dem BGA ein Dorn im Auge: Nicht Abstinenz, sondern „harm reduction“, „Begrenzung von drogenbedingtem Leid“ und „Stabilisierung der Gesundheit“ sind angestrebt. Drogenfreiheit könne, wenn überhaupt, nur mittel- oder langfristig erreicht werden. Das forschende Begleitprogramm, dem sich die Süchtigen, die sonst „jede Form der Drogentherapie chronisch verweigern“, freiwillig und mit schriftlichem Vertrag aussetzen müssen, ist umfassend. Dazu gehören strenge, ärztliche Aufsicht bei der Einnahme, regelmäßige Urinkontrollen, Blutbild, Nieren- und Leberuntersuchungen, Röntgenbilder, Teilnahme an Einzel- und Gruppengesprächen. Persönliche und soziale Veränderungen werden einerseits gefördert, andererseits akribisch aufgezeichnet und ausgewertet. Es gelten, außer dem Frankfurter Wohnsitz, strenge Aufnahmekriterien: HIV- und Hepatitisinfektionen, schwere andere Krankheiten, körperlicher Verfall, psychische Störungen, Schwangerschaft. Gesundheitsreferent Gerd Fürst: „Eigentlich absurd, daß wir erst warten müssen, bis die krank sind.“

Die Ablehnung des Bundesgesundheitsamtes nannte Nimsch „populistisch und ideologisch“. Kritik an einzelnen Programmpunkten lasse sie sich durchaus gefallen, nicht aber das Mißtrauen gegenüber Ärzten an deren Verschreibungs- und Aufsichtsfähigkeiten. Ein „Schwarzmarkt“ mit staatlichem Heroin sei wenig wahrscheinlich. Außerdem gebe es außer Heroinsucht genug andere Krankheiten, die nicht, oder nur sehr langfristig heilbar seien. Für die „Altfixer“ vom Hauptbahnhof gehe es „um das Überleben“. Sie wird vor dem Verwaltungsgericht für ihr Programm streiten.

Als beispielhaft gilt bei zahlreichen Experten ein Modellversuch in der Schweiz. In fünf Städten sind inzwischen Fixerräume eingerichtet worden. In Zürich erhalten 150 schwerstabhängige Frauen ihr Heroin unter ärztlicher Aufsicht. Gerd Fürst vermutet hinter der Berliner Verweigerung eher politische Gründe. Mit dem Thema lasse sich, meint er, gut Emotionen schüren: „So dumm können die hochkarätigen Wissenschaftler, die da sitzen, doch gar nicht sein.“ Er ahnt, daß „Heroin auf Krankenschein“ mittlerweile Bonner Chefsache geworden ist. Bundesgesundheitsminister Seehofer hat sich für dieses Frühjahr zur Besichtigung eines Heroin-Projektes in Liverpool angekündigt. Fürst: „Wenn der den Blutskandal wirklich ernst nimmt, dann ist er auch für die Heroinvergabe.“