piwik no script img

Blick auf den versifften Boden

Sie hat Schuldgefühle, er geht mit dreckigen Füßen ins Bett: Nan Goldins in über 15 Jahren zusammengesammelte „Ballade von der sexuellen Abhängigkeit“ als 50minütige Ton-Diashow in der Berliner Neuen Nationalgalerie  ■ Von Andreas Becker

Nan Goldins Fotos vergißt man nicht. Nicht so leicht jedenfalls wie die Sorte Realität, die man mit eigenen Augen sieht. Goldins Bild einer Freundin nach der Brustoperation war ein Blickfang bei der letztjährigen Biennale amerikanischer Kunst im New Yorker Whitney Museum. Das erste Bild, das man sah. Und das letzte, das man beim Rausgehen noch einmal sehen mußte. Die kaum verheilte Narbe hat sich tiefer in meinem Gedächtnis eingegraben als eine reale Schlägerei im Park, die ich wenig später beobachtete.

Vielleicht aber sind es gar nicht die Fotos selbst, die man erinnert, sondern die Atmosphäre, die sie schaffen. Die vermeintlichen Schnappschüsse, die sie selbst als ihr „Tagebuch“ bezeichnet, in dem sie uns lesen läßt, wirken tatsächlich „wie aus dem Leben gegriffen“. Manchmal fragt man sich, ob eine Freundin bei Nan anruft, ihr erzählt, wie sie wieder von ihrem Freund verprügelt wurde und Nan sagt: „O.k., ich komme gleich bei Dir vorbei.“ Nan bringt dann ihre Kamera mit, macht schnell ein Bild, und wir sehen später „Suzanne weinend, New York City 1985“. Oder einen nackten Unterkörper auf angeschmuddelter, geblümter Bettwäsche. Dort wo vorher schwarzes Schamhaar wucherte, ist jetzt eine „Ektopische Schwangerschaftsnarbe, New York City 1980“. Goldin setzt ihre Tagebuchidee so radikal um, daß wir plötzlich in ihr eigenes Gesicht schauen, entstellt durch zwei Blutergüsse, ein Auge ist blutig rot, da wo es weiß sein sollte. Die Lippen wie aus Trotz knallrot geschminkt. Titel: „Nan nach einer schweren Mißhandlung, 1984“. Und auch wenn er nicht zu sehen ist, der Betrachter braucht kein besonders talentierter Dedektiv zu sein, um zu wissen, wer der Täter ist: Brian. Ihren Freund Brian wiederum kennen wir aus vielen Hotelzimmern, in denen Nan ihn in den Zeiten ihrer Beziehung fotografiert hat.

Im Vorwort zur Buchfassung der „Ballade von der sexuellen Abhängigkeit“ (Zweitausendeins Verlag) erzählt Nan von ihrer Liebe zu Brian, die sie als Abhängigkeit empfand. Und von dem Selbstmord ihrer achtzehnjährigen Schwester, der die Ballade gewidmet ist. Ihr Tod wurde für die elfjährige Nan zum Schlüsselerlebnis, in dessen weiterem Verlauf sich Lust und Schmerz die Waage hielten: „In der folgenden Woche wurde ich von einem älteren Mann verführt. In einer Zeit größten Schmerzes erlebte ich zugleich die Heftigkeit sexueller Lust. Trotz der Schuldgefühle, die mich plagten, war ich besessen von meinem Verlangen.“

Dreckige Buden, in denen man eher Selbstmord verüben würde, als zu vögeln, wozu Hotelzimmer eigentlich viel mehr gemacht sind. In Merida, Mexiko, 1982 verwächst Brians Gesicht mit der abgeschabten Wand, an die er sich lehnt. Ein anderes Hotelzimmer ist menschenleer, aber eine lange Spur hingespritztes Blut zieht sich wie mit einem Pinsel da hingewischt die Wand entlang.

In diesen Bildern lauert der Tod schon in dem, was womöglich zur Begierde auswachsen könnte. Und hinter der Lust, die für Momente verbindet, lauert immer schon, ein wenig melodramatisch manchmal – die Einsamkeit danach. Einer liegt noch zwischen den Laken, der andere zündet sich eine Zigarette an, hockt auf der Bettkante, den Blick nach unten auf den versifften Boden gerichtet.

In der Neuen Nationalgalerie ist die Ballade, als die Nan Goldin ihre Vergangenheit zusammengefügt hat, in einer Abfolge von 750 Dias zu sehen. 50 Minuten haben wir Zeit, sie anzuschauen. Goldin hat die Diaserie, die sie seit Beginn der Achtziger immer neu ausarbeitet, ergänzt und immer wieder vorführt, als eine Art Film konzipiert. Wir sehen eben nicht 24 Bilder pro Sekunde, sondern eines in vier Sekunden. Die Schnitte sind sichtbar, und doch versucht Goldin, manchmal fast krampfhaft, Konturen ineineinander übergehen zu lassen. Ein Pärchen schaut nach links, das nächste auch, einer ist traurig, der nächste auch. Ein Bild mit Bierdose, und noch eins. Zeitlupenhafte, zerhackte Bewegungen entstehen. Menschen verschwimmen ineinander. Identität löst sich auf, wird zu einer der Gruppe. Goldin bastelt sich so für verschiedene Personen eine Kontinuität in Zeit und Raum. Für sie sind die Fotografierten eine große „Familie“, in der sie selbst lebt. Egal ob sie gerade in Berlin oder New York ist. Alles ist eng, Nan liebt es, Menschen, ihre „Freunde“, in ihrem Bad abzulichten. Je kleiner das Zuhause, desto eher läßt sich ein gemeinsamer Raum vorstellen. Goldin: „Nach landläufiger Ansicht ist der Fotograf von Natur aus ein Voyeur – der Letzte, den man zu einer Party einladen würde. Aber ich dränge mich nirgends hinein. Ich gebe hier die Party. Dies ist meine Familie, meine Geschichte.“

Die verschiedenen Kapitel dieser Geschichte markiert Goldin durch Musik: „This is a Man's World“, zu dessen Klängen wir „Dieter mit den Tulpen, München 1984“ sehen. Das Thema wechselt, wenn Screamin'Jay Hawkins „I put a spell on you“ singt, dann zeigt Nan diverse Pärchen, die sich küssen, vögeln, ineinander in Umarmungen vergraben oder das wundervolle Foto von Oopie und Chrissie, auf dem Chrissies Hintern nackt auf einem Cordsofa liegt. Sie kratzt sich gelangweilt am Fingernagel.

Der fast einfältig anmutende direkte Bezug der Musik und ihrer Lyrics zu den Fotos hat System in der Einfachheit des Erzählten und der scheinbar nicht vorhandenen Konstruktion der Fotos. Nicht zufällig hören wir gleich dreimal Velvet Underground respektive Nico. Die Parties, die Nan gibt, sind improvisiert. Die Personen treffen sich erst später wieder, wenn sie „All Tomorrows Parties“ feiern beim Diaabend bei Nan zu Haus. Dann sagen alle: Ah, ist das nicht Lutz Ehrlich? Oder der da – Joachim Sartorius? Und dann stehen da Keith Haring und Andy Warhol. Warst du eigentlich auf der Beerdigung? Und Nico, ist die nicht letztens tot vom Fahrrad gefallen?

Plötzlich bemerkt man, daß die Fotos einen Zeitraum von fast fünfzehn Jahren dokumentieren, gleichwohl aber keine Entwicklung zeigen. Die Schönen und Ausgemergelten der Nacht, all diese Szenepflänzchen, die das Popgefühl brauchen, einer kleinen Minderheit anzugehören, die vom Normalbürger abwertend beäugt wird, haben scheinbar keine Geschichte. Gleichzeitig schlägt Goldin den Bogen von Velvet Underground über Punk und „Skins beim Sex“ bis knapp vor unsere Haustür. Da aber beschleicht einen das ungute Gefühl, die Geschichte oder die Zeit für solche Bilder könnte vielleicht längst abgelaufen sein.

„The Ballad of Sexual Dependency.“ Vorführungen noch bis 20.2. täglich außer Montag um 10, 12, 14 und 16 Uhr. Neue Nationalgalerie, Berlin.

Vom 12.2. bis 10.3. bei Bruno Brunnet Fine Arts Berlin: „Nan Goldin und David Armstrong. Ein doppeltes Leben.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen