: Menschen wie du beziehungsweise ich: Die Kostümberaterin Von Claudia Kohlhase
Sie ist nicht da! Sie ist nicht nur nicht mehr da: Alles ist weg! Wo einen früher frei fliegende Kostümschwärme umsummten, salutiert jetzt alles hinter Glas.
Dezent erstickt einen der neue Teppichboden, indirekt dimmert das Licht, und rechts ist auf einmal ein Durchbruch für sahnesteife Brautkleider und Smokingkrähen. Als wenn das ginge! Am schlimmsten ist aber der schweigsame Zoo der gefangenen Kostüme – eine traurige Armada, geschlagen und zur Hälfte versenkt von der Übermacht der neuen Besitzer und ihren vernünftigen Gründen, im alten Kostümverleih klar Schiff zu machen.
Das heißt: Vitrinen aufzustellen. Dahinter die verwegensten Puffärmel haben auf einmal Zettel anhängen, als wären sie Leichen; darauf steht, daß es sich hier um eine Prinzessin, da um eine Zofe handelt, und da drüben um Charleston, Mäuse, Cancan. Kongkong hat sie gesagt, die Lucy Nagel, Kostümberaterin. Vermutlich die einzige, die es je gab, und trotzdem die Wunderbarste von allen.
Vielleicht ist sie ja doch noch irgendwo, vielleicht unter die Kostüme geschlüpft, die waren doch ihr Leben und ihr ganzer Stolz. Damals stand sie gleich an der Tür, um einen in einer Art konfuser Liebenswürdigkeit nach dem Thema zu fragen. Thema hieß: Wissen Sie schon, was Sie sein wollen? Menschen ohne Thema waren Lucy Nagel recht, wegen der Beratung. Dann lief sie erst mal vor, was auch gut war, da traf einen der Schlag nämlich kontrollierter: Tausende von Kostümen bogen sich bis unter die Balken, überrollten ächzende Schränke und Ständer und brandeten an Wänden, die Hüte trugen. Sie registrierte mit Genugtuung völlige Hilflosigkeit, faßte zielsicher ins Getümmel und wußte auf Anhieb, daß ich ein Burgfrollein war. Frollein kam daher, daß Lucy Nagel aus Wuppertal stammte, ihr Alter sagte sie aber nicht, vielleicht Mitte 70? Das Burgfrollein jedenfalls mußte aus der Zeit stammen, als es noch Ritter gab: Die Spitze war kolossal verschossen, das Wämschen vermutlich blö.
Vielleicht sei ich ja doch kein Burgfrollein, sagte ich tapfer; zur Strafe hing sie mir eine Haremsdame an und meinte: „Müssen sich bissel was trauen, nich?“ Im Hintergrund huschten verlegene Landsknechte zum Spiegel. Und immer wieder tauchten ihre kleinen weißen Kringellöckchen unter, um niemand zu übersehen auf der Suche nach dem wahren Ich. Und jetzt war sie einfach weg. Weg. Wer wollte da noch Mut zur Haremsdame haben? Was war mit den Männerturnvereinen? Problemfälle, Problemfälle und Lucys ganzer Kummer, schließlich wollte sie für alle so gern ein bißchen was Schickes. Ach Lucy.
Ich schlich zur Tür, da ertönte mit einemmal aus den Brautgemächern eine Stimme, die klang so merkwürdig liebenswürdig schusselig. Und was soll ich sagen, da saß sie, Lucy. In Hut und Mantel, zu Besuch.
Sie erkannte mich nicht gleich, aber dann doch. Wir unterhielten uns konfus, aber herzlich. Nein, hier brauche sie jetzt keiner mehr, es sei ja alles geordnet. Aber diese Fülle damals, sagte ich, als könnte sie mich trösten. „Fülle“, sagte sie da versunken, „Fülle! Au ja: Fülle. Das stimmt: Das war vielleicht eine Fülle hier.“ Und es schien mir, als wäre auf einmal ihr Trost diese derart richtige Erinnerung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen