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Frauen auf dem Weg aus dem Alptraum

„Optionen der Besserung“ – in Kalifornien probieren einige Frauenhäuser einen neuen Weg, der aus der Sucht führen soll: Mütter und ihre Babys entziehen gemeinsam  ■ Aus San Diego Christine Welter

CRASH

– der Zusammenstoß zwischen Sucht und Überlebenswillen. CRASH – ein unscheinbares Gebäude im Osten San Diegos, eine Tagesstätte für alkohol- und drogenabhängige Frauen mit Kindern und für Schwangere. Das Kürzel steht für „Gemeindehilfe und Selbsthilfe“ (Community Resources And Self Help): Zwei Büros, Gesprächsräume, eine Küche und der große Kinderraum mit einer Schlafecke; die Einrichtung ist spartanisch, die Atmosphäre einladend. Heute feiern Toni und Tracy mit ihren Familien, Freunden und Betreuern ihren erfolgreichen Abschluß des Therapieprogramms. „Vor sieben Monaten beschloß ich, mein Leben zu ändern und kam hierher – und mit eurer Hilfe stehe ich heute hier“ – sie lächelt ein bißchen verlegen. Gestern war sie sechs Monate clean.

Es ist eine feierliche Zeremonie. Festliche Kleidung, blumengeschmückter Raum. Auf einem Tisch am Fenster stehen zwei große Torten, darauf in blauer Farbe ganz groß „Congratulations – Tracy and Toni“ und darunter das Logo des kreisweiten Therapieprogramms „Optionen der Besserung“: das Profil einer Mutter, die ein Baby im Arm hält, ihre Hand schützend um seinen Kopf gelegt. Das Feiern ist wichtig und soll wichtig sein, denn für viele der Frauen, die diesen Therapieabschnitt abschließen, ist dies oft der erste Erfolg nach Jahren, in denen sie sich selbst aufgegeben hatten. Für viele ohne Schul- oder Berufsabschluß ist dies der erste Abschluß eines Lebensabschnittes überhaupt.

Die schwarze Tracy klammert sich mit einer Hand an ihrem Tüllkleid fest; mit dem anderen Arm hält sie ihre Betreuerin. Dies ist auch ein Tag der Ansprachen. Ihre Betreuerin in der Einzeltherapie lobt Tracys Willensstärke: „Wir mußten sie nur antippen, anstoßen, und sie lief los und tat, was sie tun mußte. Nach den ersten zwei Wochen kam Tracy zu mir und bat um Einzelgespräche, erzählte von dem Rückfall, erklärte, daß sie sich bereits um einen Platz in der zweiwöchigen Entziehung gekümmert habe. Als nach ein paar Wochen klar war, daß nur eine bestimmte Person ihrem Entschluß im Weg stand, ging sie am selben Abend nach Hause und schickte ihn auf die Straße.“ Hier folgt ein vielsagender Blick in Richtung der Männer, die sich in der ersten Stuhlreihe offensichtlich unbehaglich fühlen.

Tracy spricht kurz, bedankt sich bei ihrer Therapeutin, bei Francine, der Leiterin des Hauses, bei Freundinnen, ihrer Mutter, ihrer Sozialarbeiterin, ihrer ältesten Tochter (14). Fast weint sie, Angst hat sie auch. Sie weiß, daß sie noch einen weiten Weg vor sich hat, nach dem heutigen Fest.

Francine Anzalone-Byrd, Sozialarbeiterin und Leiterin des Hauses, vergleicht den Weg aus der Abhängigkeit mit einem Aufzug, den Rückfall mit einem Stromausfall: der Aufzug rast in den Keller. Toni und Tracy sind auf dem Weg ins nächste Stockwerk. Toni kam nicht freiwillig ins CRASH-Haus, sie wählte das „geringere Übel“ – die Therapieoption erschien ihr erträglicher als der Strafvollzug. Toni: „Danach fang' ich eben wieder an, dachte ich mir.“ Widerspenstig war sie, immer wieder, das bestätigt auch ihre Therapeutin: „Doch dann hat etwas geklickt, sie kam voller Trotz, doch sie ist geblieben – dann hat sie sich plötzlich eingesetzt. Ich dachte oft, sie wollte hier bloß übernachten, und am nächsten Morgen stand sie wieder fünfzehn Minuten zu früh vor der Tür.“

Toni hat drei Kinder zwischen vier und 14 Jahren. Ein bärtiger Hüne stellt sich als Tonis Bruder vor: „Was soll ich groß sagen. Ihr habt mir meine Crack-Raucherin geklaut. Was bleibt jetzt? Soll ich etwa auch aufhören?“ Gelächter und lauter Beifall von allen Seiten.

CRASH Inc. gehört zu den fünf ersten Frauenhäusern, die im Rahmen einer Pilotstudie von der Alkohol- und Drogenabteilung der kalifornischen Gesundheitsbehörde seit 1990 in San Diego gefördert wurden. Als Aufputschcocktails aus Metaamphetaminen Ende der 80er Jahre in San Diego einschlugen, stieg die Zahl der drogengeschädigten Neugeborenen rapide an. Bei 4.000 Babys pro Jahr ließen sich Spuren von Alkohol, Kokain, LSD oder Crystal Metaamphetaminen nachweisen. Dies bedeutet, daß jede zehnte Frau in San Diego während der Schwangerschaft Alkohol oder Drogen mißbraucht. Die Bedürfnisse von Schwangeren und jungen Müttern sind gleichzeitig so komplex, daß sie traditionelle Therapieeinrichtungen hoffnungslos überforderten. Selbst wenn sie wollten, hatten diese Frauen keine Chance. Es gab kein einziges Programm, das auf die Bedürfnisse von Schwangeren oder Müttern mit Kindern abgestimmt war. Therapieplätze konnten immer nur im Einzelfall gefunden werden. Und dies war schwierig.

Das Testprogramm verlief erfolgreich: 89 Prozent der Neugeborenen im „Optionen-Projekt“ zeigten bei der Geburt keine Drogenschädigungen. „Wichtig ist es, die Frauen während der Schwangerschaft aufzunehmen. Dies ist eine kritische Zeit, in der sind sie aus Sorge um das Kind eher bereit, eine Therapie zu beginnen“, erklärt Holly Romig, die beim Gesundheitsamt der Stadt San Diego die Fäden in der Hand hält. „Sozialamt, Wohnungsamt, Jugendamt, Strafvollzugsanstalten, Krankenhäuser, Anonyme Alkoholiker in den Gemeinden, ich kann sie nicht alle aufzählen, doch ohne die Zusammenarbeit wäre es unmöglich. Das, was wir in den Zentren machen, ist nur ein erster Schritt...“

Eine Streetworkerin, selbst Absolventin des „Optionen-Projektes“, ist tagtäglich in den „neighborhoods“ unterwegs und versucht schwangere Frauen aus dem Drogenmilieu herauszuziehen. Morgens bringt ein Autodienst die Frauen zur Tagesstätte und fährt sie abends wieder nach Hause. Aus den fünf Zentren sind im letzten Jahr 21 geworden: Tagesstätten, Wohngruppen, zwei Häuser für Teenager, eine Einrichtung für spanischsprechende Frauen, verschiedene Projekte operieren aus dem Strafvollzug. Jährlich schießt die Stadt vier Millionen Dollar zu. Holly Romig: „Wir sind zum Vorzeigeprojekt geworden. Natürlich tun wir noch lange nicht genug. Wir haben fast überall Wartelisten. Doch vor drei Jahren standen diese Frauen alle auf der Straße.“

Die Logik ist simpel: Die medizinische Versorgung eines Drogenbabys in den ersten drei Wochen kostet mehr als 30.000 Dollar. Die Kinder werden meist als Frühchen geboren, das bedeutet einen Tagessatz in der Klinik von 2.500 Dollar. Kommen die Babys mit typischen Alkoholschädigungen zur Welt, steigen die Behandlungskosten in astronomische Höhen. Keiner Frau wird aufgrund ihrer finanziellen Lage ein Therapieplatz verweigert: fast alle sind Medicare- Empfänger (die Krankenversicherung der Armen in den USA).

Der Einsatz lohnt sich: Zur Zeit betreut „Optionen“ 400 Frauen und 800 Kinder pro Jahr in San Diego. Holly Romig und ihre Kolleginnen in der Alkohol- und Drogenabteilung des Gesundheitsamtes beraten inzwischen verschiedene andere Städte bei der Koordination ähnlicher Projekte.

„Höchste Priorität hat, die Kinder drogenfrei zur Welt zu bringen. Wenn irgend möglich, sollen die Kinder auch bei den Müttern bleiben und nicht mehr in Pflegefamilien untergebracht werden. Nach der neuesten Gesetzeslage ist die Tatsache, daß eine Frau Drogen nimmt, kein ausreichender Grund mehr für den Entzug des Sorgerechtes. Doch sobald bei einem Säugling ein positiver Drogennachweis vorliegt, greift die Jugendbehörde ein.

„Als ich schwanger wurde, habe ich aufgehört“, erzählt Rochelle Balden, „– für die ersten drei Monate. Dann doch wieder alle vier Wochen primos (Tabak und Crack) geraucht, dann wieder aufgehört. Sonst hätten sie mir mein Baby weggenommen. Lynette wurde clean geboren. Ich hab' so geheult, als ich sie sah. Wie hab ich ihr das bloß antun können. Doch wenn es mir dann wieder schlechtging, hab' ich geraucht. Vor drei Monaten rief ich bei CRASH an – und jetzt ändert sich wirklich etwas. Ich lerne, wie ich eine bessere Mutter sein kann, verständnisvoller – nicht mehr so wütend –, und ich lerne, daß ich auch nein sagen kann.“

Der Entzug des Sorgerechtes ist es oft, der die Frauen aufrüttelt. Dann bleibt nur die Therapie. Kernstück des Modells im CRASH-Haus ist der Zwölf-Schritte-Ansatz der Anonymen Alkoholiker. „Dieses Modell ist im Grunde auf weiße Männer ausgerichtet, wo zunächst ein starkes Ego gebrochen werden muß“, erläutert Francine. „Wir haben das für uns abgeändert. Unser Ansatz ist nicht bestrafend, vielmehr aufbauend. Die Frauen kommen ja ohne jedes Selbstwertgefühl. Wir fangen ganz unten an.“ Die Frauen in der CRASH-Tagesstätte erarbeiten sich Lebensfähigkeit schrittweise, Tag für Tag. Neben den Einzel- oder Gruppengesprächen belegen sie Kurse in Kindererziehung und -ernährung und erfahren oft zum ersten Mal etwas über Schwangerschaftsvorsorge. Die Mithilfe im angeschlossenen Kinderhort ist verpflichtend: Fünf Stunden pro Woche arbeiten die Mütter dort mit der Erzieherin zusammen und versorgen ihre Kinder. Den Einsatzplan erstellen die Frauen selbst. Drogenaufklärung, Aidsberatung und -verhütung, Tagebuchschreiben gehören in den Therapieplan. Der Einkauf der Lebensmittel und die Vorbereitung der beiden Mahlzeiten liegen auch bei den Frauen.

Zweimal pro Woche werden unangemeldete Urintests vorgenommen. „Rückfälle handhaben wir immer individuell, im Einzelgespräch. Vieles klärt sich von selbst, wenn die Frau versteht, weshalb es geschehen ist. Manche sind aber auch einfach nicht bereit aufzuhören. Wenn drei Rückfälle kurz aufeinander folgen, wird es kritisch“, erklärt Francine Anzalone-Byrd. Liegt einer Frau daran, das Sorgerecht für ihr Kind zurückzugewinnen, sollte sie die Therapie innerhalb eines Jahres abschließen. Sechs Monate Verlängerung sind jedoch durchaus üblich. Weitere Fragen nach dem Ablauf des Therapiemodells beantwortet Francine nur schmunzelnd: „Im Grunde ändert es sich ständig, weil wir experimentieren und jede Frau ihren eigenen Plan entwirft.“ Voraussetzung für den Erfolg sind Offenheit und eine erstaunliche Flexibilität. Auch wenn alle wissen, daß von einer Heilung bei den Frauen nicht die Rede sein kann.

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