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Kulturelles Patchwork

■ Zwischen Tierorakel und Madonna-Postern: „Brief an einen Engel“ (Forum)

Eine Insel. „Irgendwann, irgendwo“, heißt es im Untertitel. Hunderte von Menschen ziehen lärmend einen riesigen Stein hinter sich her. Zwei Frauen und ein kleiner Junge stehen am Straßenrand. Ein bunter Kleinbus, auf dem „Elvis“ steht, hält. Drei Männer steigen aus. Sie stellen eine entfernt an einen Engel erinnernde Schaufensterpuppe in den Sand und bitten die Kleingruppe, sich danebenzustellen, um sie zu fotografieren. In der nächsten Szene bringt der kleine neunjährige Lewa seiner jungen Lehrerin eine Illustrierte. „Erzählungen sind wie Bilder, und Bilder spiegeln die Wahrheit“, sagt der kleine Junge. Im Radio berichtet ein deutscher Sender aus Bosnien.

Kuda Liar (der mit dem Elvis- Bus), der stets farbenfroh gekleidete örtliche Gangsterchef, möchte Lewas Vater, seinen Rivalen, aus dem Weg räumen. Den Mordauftrag erteilt er einem Untergebenen. Der gibt den Befehl an einen Jungen weiter. Als sei es das Selbstverständlichste der Welt, ersticht der Knabe den Mann beim Baden. Wo im europäischen Kino nun ein kriminalistisches Psychodrama einsetzen würde, in dem es um den jugendlichen Täter und die dramatischen Auswirkungen auf Sohn und Frau des Getöteten ginge, passiert hier eigentlich nichts – oder eben ganz anderes. Statt Spurensicherung, Suche nach dem Mörder usw. zeigt Garin Nugroho ein pompöses Begräbnisritual, bei dem einem weißen Pferd – zum Schrecken der Berliner ZuschauerInnen – die Halsschlagader aufgeschnitten wird, Klageweiber klagen und die trauernde Witwe von ihren Freundinnen gestreichelt wird.

Lewa ist nun Vollwaise, denn seine eigentliche Mutter war vor Jahren bei einem Autounfall umgekommen. Er weigert sich – und das ist das einzige Quentchen Psychologie, das Nugroho sich gestattet –, in der Schule den Satz „Das ist Mutter“ nachzusprechen. Das Bild im Schulbuch zeigt nicht seine Mutter. Vielleicht ist Madonna seine Mutter. Ein Poster des Popstars fand er jedenfalls an der Tür des Busses, mit dem sie verunglückte. Mit einer Polaroidkamera fotografiert er das Bild Madonnas und überklebt damit die Schulbuchmutter. Auch der Vater im Schulbuch ist nicht sein Vater. Lewa stiehlt den Leichnam und fotografiert ihn, denn von nun an sucht er die Wahrheit mit der Polaroidkamera, und zeigt das Foto der Lehrerin – „das ist mein Vater“.

Lewa schreibt Briefe an einen Engel, von dem ihm seine Lehrerin erzählt hat. Der Postbote stellt sie auch zu; als Engel antwortet jedoch die Lehrerin, was Lewa sehr enttäuscht. Der widerwärtige Schurke Kuda Liar heiratet inzwischen die Ziehmutter Lewas. Er vergewaltigt die Lehrerin, am Ende erschießt Lewa den Schurken des Films und landet in einer Erziehungsanstalt. Dort hockt er in der langen, schweigsamen Schlußeinstellung verschlossen auf seinem Bett.

Garin Nagroho, der 32jährige Regisseur des Films, kann bereits auf 15 Dokumentarfilme, einen Spielfilm und diverse Preise zurückblicken und arbeitet zur Zeit als Filmhochschullehrer.

Sein Film, stilistisch eine Mischung aus Dokumentar- und Spielfilm, ist nicht nur für Europa, sondern auch für das experimentierunfreundliche Indonesien recht ungewöhnlich. Gedreht wurde auf Suma, einer abgelegenen Insel im Südosten Indonesiens, auf der ein seltsames Patchwork der verschiedenartigsten Kulturen herrscht. Neben animistischen Kulten, Tieropfern, uralten Begräbnisritualen findet man hier Batman-T-Shirts, kaputte Flugzeuge, Madonna-Poster, Popmusik und Gorbatschow-Bilder.

Nur drei der (hervorragenden) Schauspieler sind Profis, der Rest spielt mehr oder weniger sich selbst: Der König des Dorfes den König, der Chef der örtlichen Mafia den Gangster (!) usw. Und vor diversen Szenen mußte das Orakel (Tiereingeweide) um Erlaubnis gefragt werden. Detlef Kuhlbrodt

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