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Zornbebend nach Hause wanken

■ Die Vielfilmgucker: So lebt es sich in der Sichtungskommission des „Forums“

Peter B. Schumann, Dorothee Wenner, Klaus Dermutz, Erika Richter, Silvia Andresen, Ulrich und Erika Gregor, die Mitglieder des Auswahlkomitees des „Internationalen Forums des Jungen Films“ sind zu beneiden. Zwischen März und November fahren sie zu den Filmfestivals und -messen dieser Welt, lernen interessante Menschen, Filme und Kinosäle kennen und amüsieren sich prächtig. Zwischen Dezember und Januar vor allem, wenn es draußen kalt und dunkel ist in Berlin und Grippe- und Schlechte-Laune-Wellen die Stadt überschwemmen, sitzen sie im warmen Arsenal-Kino und sichten und sichten „quer durch die Weltproduktion nach den Prinzipien totaler Zufälligkeit“ die Filme dieser Welt. 571 Filme wurden in diesem Jahr eingereicht und geguckt, diskutiert und beurteilt.

Über die, die schon die täglichen drei Fernsehstunden des durchschnittlichen Bundesbürgers für problematisch, gar gefährlich halten, können die Sichtungsgruppenmitglieder, die sich an einem naßkalten Januarabend im Arsenal-Büro versammelt haben, nur lachen. (Außer Klaus Dermutz, denn der sitzt beim Zahnarzt. Und ein weiteres Sichtungsmitglied hatte keine Zeit, weil es in der Zwischenzeit Kulturminister (!) der Schweiz geworden ist.) In der Hauptsichtungszeit, im Dezember und Januar, sitzen sie jedenfalls tagtäglich bis zu vierzehn Stunden vor der Leinwand und schauen sich „im Schnitt so sechs bis acht Filme an“ (Erika Gregor). „Es gibt natürlich auch Extremwerte“, die liegen bei „zwölf“, doch „wenn man Filme in hoher Konzentration vollständig sieht, kann man eigentlich nicht mehr als sechs schaffen“, erklärt Ulrich Gregor, der es im Jahresdurchschnitt auf „ungefähr tausend Filme“ bringt.

Obgleich viele der eingereichten Filme nur als Videokopien vorliegen, könne man die Arbeit der Sichtungskommission nicht mit dem Fernsehngucken vergleichen. Es sei ganz anders: „Wir bügeln und nähen ja nicht dabei wie die Fernsehzuschauer. Insofern haben wir ein anderes Bewußtsein, wenn wir Filme gucken“, findet Peter B. Schumann, der bärtige Spezialist des lateinamerikanischen Films. Und außerdem „haben wir ja keine häusliche Situation. Es ist eine Kinosituation“, ergänzt Erika Gregor, die sich beim Sichten „nicht über den Dingen, sondern sozusagen unter den Dingen“ fühlt. „Die schneien auf uns herab, und wenn es was Wunderbares gab, geht es uns gut.“ Dann kommt es auch schon mal vor, daß die euphorisierte Sichtungskommission in begeisterten Telegrammen einen Regisseur zu seinem Meisterwerk beglückwünscht. „Doch es gibt auch Tage, wo wir zornbebend auseinandergehen, zerbrochen nach Hause wanken und sagen, wir können die Scheiße nicht mehr ertragen.“ Das waren dann die „ärgerlichen Filme und die falschen Filme“, die „gelegentlich auch abgebrochen werden. Das ist ein sensibler Punkt, aber es wäre natürlich unrealistisch, das zu leugnen“ (Ulrich Gregor).

Die Gefahr, daß die Vielfilmgucker von der Realität entfremdet werden, besteht für Erika Richter, Herausgeberin der Zeitschrift Film und Fernsehen, nicht. Ab und an begebe man sich ja auch noch in die alltägliche Realität, ergänzt Erika Gregor. „Ich muß zum Beispiel für meine Mutter Sauerkraut einkaufen.“ Dennoch: „Die Sichtungstermine greifen schon sehr stark in das Alltagsleben ein“, weiß Peter B. Schumann, der deshalb auch hin und wieder „eine gewisse Gegenwelt“ zum Filmegucken braucht: Dann flieht er in sein „Privatleben“ und ist auch häufig „im Theater“ oder bei „Ausstellungen“ zu sehen. Den „Kontakt zur politischen Wirklichkeit außerhalb der Diskussionen, die wir haben“, stellt er im Allgemeinen übers Fernsehnachrichtengucken oder Zeitunglesen her.

Gewisse Irritationen infolge exzessiven Filmeguckens sind nicht zu vermeiden. Es kommt zum Beispiel vor, „daß man das Gefühl für die Zeit und die Orientierung an den Wochentagen verliert. Man weiß oft nicht mehr, wie spät es ist. Plötzlich ist es Nachmittag oder Abend, und eigentlich ist man überrascht über diese Entwicklung der Zeit“, gesteht Ulrich Gregor, während es Erika Gregor nach tausend Filmen sehr viel „Spaß“ macht, „mit lebendigen Menschen zu reden, vielleicht auch über ganz andere Sachen“.

Die Filmfestspiele, für das normale Publikum unbestrittener Höhepunkt des Berliner Kulturlebens und ein großes Vergnügen, sind für die Programmverantwortlichen zwar ebenfalls wunderbar, aber doch auch recht anstrengend, gar angstbesetzt. „Bei Filmen, die ich besonders liebe, bin ich voller Angst und voller Panik“, berichtet Erika Gregor. „Solche Filme sind wie ein Baby, das man durchs Publikum tragen möchte. Und ich gehe in die Vorstellungen, um zu sehen, wie das Publikum reagiert. Jeden, der rausgeht, verfluche ich. Wenn es Leute sind, die ich kenne, sage ich: Bleiben Sie drin, es wird noch besser, und wenn ich plötzlich merke, daß der Saal mit dem Film atmet, bin ich froh. Wenn alles schlecht gelaufen ist, bleibe ich drinnen, um den Regisseur zu trösten und ihm zu sagen, daß die Leute alle blöd sind und sein Film ist wunderbar. Das macht mich ganz krank – diese Ängste, die ich ausstehen muß für unsere Filme.“

Nach den Filmfestspielen ist alles vorbei; wo vorher tausend Filme und Menschen waren, herrscht nun eine große „Leere“. Gewöhnt an den Kinorhythmus, herrscht nun Verwirrung. „Was ist los?“ fragt sich Ulrich Gregor. Und Peter B. Schumann fühlt „auch Trauer, obgleich ich den Alltag genauso gut, vielleicht sogar noch besser finde“. Detlef Kuhlbrodt

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