: Nachbebenforschung Von Mathias Bröckers
Für die Mitglieder der L.A. City Police fallen zur Zeit Thanksgiving und Weihnachten täglich zusammen: Normalerweise verdient ein Cop ungefähr 800 Dollar die Woche, zur Zeit aber ist es mindestens das Doppelte. Die nach dem Erdbeben gesperrten Wohnungen – es sind immer noch Tausende – dürfen nicht betreten werden. Auch wenn der Schreibtisch mit wichtigen Papieren oder dem letzten Bargeld durch die zersplitterte Terrassentür leicht zu erreichen wäre, der Besitzer darf an sein Hab und Gut nicht ran. Und natürlich auch kein Dieb oder Plünderer – deshalb schieben Streifenpolizisten eine Schicht nach der anderen und umkreisen die betroffenen Blocks Tag und Nacht. Die aus Washington finanzierten Überstunden werden gut bezahlt und sind heiß begehrt. Die Allgegenwart des Gesetzes im Fernando Valley hat dazu geführt, daß die Kriminalität im ganzen Stadtteil stark zurückgegangen ist. Auf einen Stand wie vor 40 Jahren, als in Los Angeles, wie die Ureinwohner glaubhaft versichern, kaum jemand seine Haustür abschloß, weil Einbrüche und Diebstähle einfach nicht vorkamen. Heute ist selbst die dürftigste Absteige mehrfach verammelt und die Villen der Reichen geschützt wie Hochsicherheitstrakte. Der Verfall der Moral ist meßbar: an der Umsatzsteigerung der Security-Branche.
Wer aus seiner Wohnung evakuiert ist, erhält für die nächsten 18 Monate monatlich 80 Prozent der ehemaligen Miete aus dem staatlichen Nothilfefonds, um eine neue Wohnung mieten zu können. Und doch werden viele, die jetzt ihre Bleibe verloren haben, keine neue mehr finden. Die unübersehbare Zahl der „Homeless“ wird durch das Erdbeben weiter ansteigen. Nun kann ein Obdachloser in Kalifornien auch im Januar durchaus am Strand schlafen, hat also verglichen mit seinen „Kollegen“ im sibirischen New York paradiesische Verhältnisse. Allerdings nur, was das Klima betrifft. Um das Heer von bettelnden Homeless aus der Innenstadt zu vertreiben, haben sich die Stadtväter von San Francisco etwas ganz Besonderes ausgedacht: Wer sich in öffentlichen Anlagen dauerhaft aufhält, übernachtet oder auch nur uriniert, muß ab sofort mit 79 Dollar Strafe rechnen. Da keiner der Betroffenen das zahlen kann und sämtliche Knäste hoffnungslos überbelegt sind (schon empfiehlt das Wall Street Journal die Aktien zweier privater Knastbetreiber als Geheimtip), wird diese „Lösung“ des Obdachlosenproblems nicht viel helfen. Daß aber ausgerechnet San Francisco – „be sure to wear some flowers in your hair“ – dabei die Vorreiterrolle übernommen hat, verdient doch der Erwähnung. Selbst für klassische Blumenkinder ist die Stadt ein heißes Pflaster: Wer etwa im Haight-Distrikt, dem einstigen Zentrum der Bewegung, noch mit dem guten alten Pot handelt, lebt gefährlich. Nicht die Polizei oder die Bürgerwehr „Residents Against Drugs“ ist dabei der hartnäckigste Gegner, sondern die bandenmäßig organisierten Crack- Dealer, die die Marihuana-Konkurrenz gnadenlos bekämpfen. Statt strahlender Hippies haben ausgezehrte Crack-Monster die Bürgersteige übernommen. Und doch, meint eine Alteingesessene, scheint das Schlimmste überwunden: Die Kids stehen statt auf Chemie und Knarren wieder mehr auf Blumen und Hanf. Nachbeben von 67? Diesesmal wird's ein großes!
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