piwik no script img

Ein Extremfall von Bescheidenheit

In Dresden wurde der Wohnungslose Reiner Schmidt totgeschlagen / Ermittler kommen nicht voran  ■ Von Detlef Krell

Auf den Ebertplatz im Dresdner Stadtteil Löbtau verirren sich nur selten Menschen. Verwaist und verkommen liegt das Gelände am Rande der Baustelle für eine vierspurige Hochstraße. Die Außenwand der ehemaligen Bushaltestelle ist mit einer Collage überzogen, Plakaten für die Bundestagswahlen vor vier Jahren. Die Innenwände sind verräuchert und bekritzelt. Über die ganze Breite steht eine Holzbank. An den zur Straße offenen Raum schließt eine zellengroße, fensterlose Nische an. Der Bunker ist leer; draußen auf der Wiese liegt ein Stahlfederboden.

Zweieinhalb Jahre lang war die Bushaltestelle bewohnt. Im Januar 1991 hatte der achtundvierzigjährige Reiner Schmidt seine Wohnung verlassen und sich zwei Ecken weiter mit seinen Bündeln in dieser Gruft eingerichtet. Am 3. September 1993 wurde er von zwei Kindern gefunden. Reiner Schmidt lag blutüberströmt auf dem Gehweg vor dem Wartehäusel, lebte aber noch. Am nächsten Morgen verstarb er im Krankenhaus. Die Polizeidirektion Dresden geht davon aus, daß das Opfer in der Nacht vom 2. zum 3. September „verletzt“ wurde.

Zwei Männer, die angeblich zuletzt mit ihm gesehen wurden, werden als „Zeugen“ beschrieben: der eine zwischen 19 und 22 Jahren, etwa 1,80 Meter groß, von schlanker, kräftiger Gestalt, mittelblondes, glattes Haar, keinen Bart. Der andere, zwischen 24 und 28, etwa 1,65 Meter groß und schlank, Haare sind ebenfalls mittellang, aber dunkelbraun, auch er keinen Bart. Bis jetzt hat die Polizei keinerlei Hinweise bekommen. Polizeisprecher Karsten Schlinzig bedauert, daß die „Ermittlungen auf der Stelle treten“. Die Tat sei „vermutlich nicht aus politischen Motiven heraus begangen worden“, sondern „weil jemand auf die letzten paar Mark, die der Reiner Schmidt in der Tasche hatte, scharf war“. Schon möglich, doch auch dafür gibt es keine Anhaltspunkte, außer der Zeugenbeschreibung, die an Klischees vom „Milieu“ erinnert. Der Polizeisprecher beteuert, daß immer noch, ein halbes Jahr nach der Tat, vom zuständigen Dezernat ermittelt werde, muß aber einen „gewissen Stillstand“ zugeben.

Reiner Schmidt war im Stadtteil bekannt, obwohl er seit Jahren sehr einsam lebte. Sein früherer Nachbar, der junge Fotograf Steffen Giersch, ist der Enkelsohn des Hauseigentümers. Er hat den „Absturz des Reiner Schmidt“ miterlebt, hin- und hergerissen „zwischen Mitleid und Haß“. Der Absturz begann 1980, als Reiners Lebenskamerad, der ältere Herbert R., die gemeinsame Wohnung verließ und kurz darauf verstarb. Damals hatte Reiner bei „Sero“ gearbeitet, einem Betrieb, der „Sekundärrohstoffe“ recycelte. Als die Betriebsbaracke 1986 abbrannte, wurde auch Reiner Schmidt von der Polizei vernommen. Zu dieser Zeit war er, wie sich sein Nachbar erinnert, „äußerlich schon sehr vernachlässigt“.

Er sollte nie wieder Arbeit finden, blieb inoffizieller DDR-Arbeitsloser. Es ging „schlagartig bergab“ mit ihm, nach zwei Flaschen Bier war er betrunken, die Wohnung sah aus „wie eine Ruine“. Steffen Giersch bemühte sich um den „völlig hilflosen Menschen“, auch als „andere Leute im Haus langsam aggressiv“ gegen den verwahrlosenden Reiner Schmidt wurden. Doch letztlich blieb er selbst hilflos: „Reiner war nicht in der Lage, sich um irgend etwas zu kümmern. Er hat sich nicht gerührt, und die Fürsorge auch nicht.“ Steffen Giersch erinnert sich an Gespräche aus diesen schlimmen Tagen und an einen immer wieder auftauchenden Wunsch: „Warme Bohnen mit Speck“ sollte es doch einmal geben. Die Sehnsucht dieses Mannes, verschlüsselt in einem Armeleutegericht.

Die Spannungen im Haus waren nicht mehr auszuhalten, als Reiner Schmidt begann, Abfälle und Fäkalien aus dem Fenster zu schütten. Der Eigentümer legte ihm mehrmals nahe, sich um eine andere Wohnung zu kümmern. „Eines Tages war er verschwunden“, erinnert sich der Fotograf, „und bald wußten wir, daß Reiner im Wartehäusel lebt.“ Er habe ihn auch dort mehrfach besucht. „Bei aller Verwahrlosung hatte sich Reiner immer einen Rest Bürgerlichkeit bewahrt. Seine Sachen standen vor Dreck, aber seinen Unterschlupf betrat er nur mit geputzten Schuhen. Bei den TU-Studenten war er bekannt, weil er auf deren Sportplatz immer Ausdauerlauf gemacht hat.“ Völlig abgehärtet gegen Witterung sei er gewesen.

Davon erzählt, mit einiger Hochachtung in der Stimme, auch der alte Mann, der allabendlich in der Baufirma hinter der Wartehalle seine Kontrollrunde dreht. „Der ist bei Wind und Wetter runter an die Weißeritz“, ein nahe gelegenes Rinnsal, „hat sich gewaschen und Frühsport gemacht.“ An die Aufregung im September, Blaulicht und Vernehmungen bei der Polizei, kann sich der Vorruheständler noch gut erinnern. „Der Mann hat uns allen leid getan“, spricht er für die Nachbarschaft des einzigen Wohnhauses an diesem Platz gleich mit. „Das war kein schlechter Mensch, der hätte keiner Fliege was zuleide getan.“ Hin und wieder hätte man ihm auch etwas zu essen gegeben. Die beiden Kinder, die ihn gefunden hatten, seien fast jeden Tag mal bei ihm gewesen. „Aber da war nichts passiert, Unsittliches oder so“, versichert der Mann eilig. Doch da war noch ein zweiter Bewohner in der Wartehalle, „der hat dem Reiner Schmidt Unglück gebracht“. Den Verdacht kann der Zeuge nur damit begründen, daß der zweite Mann „richtig runtergekommen“ war. Für den Polizeisprecher indes ist dieser „zweite Mann“ eine Neuigkeit: „Nein, das ist uns nicht bekannt, daß da noch jemand mit gelebt hat.“ Wenige Schritte vom Tatort entfernt, an der hektischen Kreuzung Dreikaiserhof, liegt die „Husch-Halle“. Dort sitzen Männer, die immer dort sitzen. Rund um die Uhr gibt es eine Flasche Bier und ein buntes Fernsehbild. „Wir alle kannten den Reiner“, erklärt Hans-Jürgen T., einer der Stammgäste. „Ein ganz armes Schwein. Manchmal wollte ihm jemand eine Flasche Bier schenken, aber der hat immer abgelehnt.“ Wer den Einzelgänger erschlagen haben könnte, darauf wissen die Männer in der „Husch-Halle“ auch keine Antwort. Aber die Personenbeschreibung der beiden „Zeugen“ hat die Polizei hier bekommen.

In der Wärmestube und bei den letzten Nachbarn des Opfers hat es polizeiliche Ermittlungen gegeben. Doch bei anderen naheliegenden Adressen war bis heute offenbar kein Polizist. Noch in Sichtweite der „Husch-Halle“ steht die nächste Imbißbude, auch sie mit Stammkundschaft. „Nein, bei uns war keine Polizei, das müßte ich wissen“, meint der Inhaber. Den Reiner, ja, den hätten sie alle gekannt. „Der kam immer hier vorbei mit seinen Beuteln, und er wurde von allen der Schmutzige Reiner genannt. Ich glaube aber, so schmutzig war der gar nicht. Das war nur ein ganz armes Schwein.“

Auch in der einzigen „Beratungsstelle für wohnungslose Menschen“ der Halbmillionenstadt hat kein Polizist nachgefragt. Peter Müller Merkel ist Student an der Evangelischen Fachhochschule für Sozialarbeit und arbeitete dort als Praktikant. Zwei Monate, bevor Reiner Schmidt umgebracht wurde, hatte er mit ihm ein ausführliches Gespräch, das schriftlich dokumentiert ist: die Kindheit in Leipzig und in einem Heim im Erzgebirge, die Lehre als Drogist in Meißen, drei Jahre Armeedienst. An die wohlgeordnete Armeezeit erinnerte sich der Obdachlose gern, er bereute nur, „daß ich nie im Lokal war. Ich hätte Bier und Schnaps trinken können, oder mal einen Magenbitter.“ Nach der Entlassung machte er erste Männerbekanntschaften. Es waren ältere, gutbürgerlich lebende Männer; Reiner Schmidt erinnerte sie als „nette“ und „gute“ Menschen, sprach jedoch über homosexuelle Beziehungen nicht. Aber er legte Wert darauf, sich gegen den – nie ausgesprochenen – Vorwurf zu verwahren, er sei etwa ein „Erbschleicher“.

Peter Müller Merkel fiel in dem Gespräch auf, daß sein Gegenüber von einer „rührenden Bescheidenheit“ gefangen war. Bescheidenheit, die „ihn ins Grab bringen wird“, mußte er diesen ersten Eindruck präzisieren. Reiner Schmidt schämte sich für die Sozialhilfe wie für ein unrechtmäßiges Geschenk, beteuerte immer wieder, daß er „sofort wieder arbeiten gehen“ würde, wenn er nur Arbeit bekäme. Als „Traumwohnung“ beschrieb er ein Loch, das seiner letzten Behausung sehr ähnlich wäre: „'ne Dachkammer oder 'ne Kellerbehausung, da könnte ich mir ein altes Bett reinstellen, einen alten Schrank, das würde mir schon genügen. Und ich könnte meine alten Sachen mitnehmen, die paar, die ich habe.“ Doch er war nicht in der Lage, auch nur einen Schritt in eigener Sache zu gehen. „Reiner Schmidt hätte eine Wohnung bekommen“, ist sich Michael Pohlmann, Sozialarbeiter in der Beratungsstelle, sicher. „Deshalb ist die Schuldzuweisung schnell zur Hand.“ Doch die ziele ins Leere, denn Reiner Schmidt sei ein „extremes Beispiel für nicht können“.

Das Sozialsystem habe „die Forderung, daß die Leute kommen und ein gewisses Tempo einhalten, mit dem sie sich selbst kümmern“. Pohlmann benutzt für das Sozialsystem das Bild einer Treppe: „Für solche Menschen, die an die zweite oder dritte Stufe schon nicht mehr herankommen, diejenigen, die sich selbst als Stadtratten bezeichnen, muß auf der ersten Stufe mehr getan werden. Sie brauchen niedrigschwellige Angebote, damit sie sich erst mal ausruhen können und vielleicht doch einmal die anderen Stufen schaffen.“

Seinen allerletzten Rest Selbstachtung hatte sich Reiner Schmidt in seiner Wartehalle behütet, außerhalb der Betonhülle war er ein Nichts. Peter Müller Merkel erinnert an die „systematische Ordnung in der Hütte“ und an die Passagen des Gesprächs, in denen es um Gewalt ging. Der Obdachlose gebrauchte dabei das merkwürdige Wort „Ich bin keine Suche“. Er hätte eine Zeitlang in der Stadt, auch mitten im Zentrum, in Papierkörben gesucht. Dafür habe er mehrfach Schläge eingesteckt. „Suchen dürfen Suchen“, so brachte er diese Erfahrungen auf einen rätselhaften Punkt. Offen ließ er, ob er bei seinen Exkursionen eventuell Hierarchien des „Milieus“ verletzt hatte. Jedenfalls wollte er „niemals mehr“ in der Stadt einen Mülleimer anrühren.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen