: Erinnerung an Körperzustände
■ Rui Horta im Hebbel-Theater und Amanda Miller am Halleschen Ufer
„Festivalbesucher lernen Bescheidenheit“, schrieb der FAZ- Tanzkritiker Jochen Schmidt anläßlich eines der wichtigsten Tanzfestivals der Welt, dem „Festival International de Nouvelle Danse“ im kanadischen Montreal. Gerade mal eine kurze, 15 Minuten währende Chroeographie des Amerikaners Bill T. Jones konnte ihn auf dem zehntägigen Festival wirklich begeistern. Das mag ein Trost sein für die Besucher der „Tanzplattform Deutschland“, die am Sonntag zu Ende gegangen ist. Von dem, was Tanz sein kann, gab es nur wenig zu sehen. Auch große Namen hielten nicht, was sie versprachen.
Urs Dietrich enttäuschte mit einer pantomimischen Spielerei, und erst als man längst alle hochfliegenden Erwartungen verabschiedet hatte, wurden sie dann doch noch erfüllt. Am Sonntag vormittag zeigten auf einer Lecture Demonstration Rui Horta und seine Gruppe S.O.A.P. Tanz vom feinsten. Die Frankfurter Kompanie, die vor zwei Jahren in Bagnolet den Grand Prix gewann, brauchte weder Lichttechnik noch Kostüme oder Bühnenbild, um ihr Publikum zu Begeisterungsstürmen hinzureißen, wie sie die Tage zuvor nicht zu hören waren. Über den Willen zu Bühnenwirksamkeit und Erfolg, wie er in den frühen Arbeiten Rui Hortas zu spüren war, ist der Choreograph inzwischen hinausgewachsen. Unter die hochexplosive, ganz am Physischen orientierte Tanzsprache mischt sich eine Nachdenklichkeit, die den Tänzern Raum gibt zu einem vorher nicht dagewesenen, individuellen Ausdruck: Einfache Geschichten – wie die Angst und die Lust, sich nackt zu zeigen, oder der Versuch, das Bild, das andere von einem haben, zu erfüllen – werden in ihren Tiefendimensionen ausgeleuchtet.
Mit der heftigen Körperlichkeit eines Rui Horta hat Amanda Miller und ihre Company Pretty Ugly nichts im Sinn. Die vier Choreographien, die sie an zwei Tagen im Theater am Halleschen Ufer zeigte, waren von einer Feinstofflichkeit jenseits aller Realitäten. In „Pretty Ugly“, einer früheren Choreographie von 1988 (den die im Sommer vergangenen Jahres gegründete Gruppe als Eigennamen übernahm), gibt es noch eine direkte, vitale Körperlichkeit. Doch schon hier kündigt sich das künftige Thema an: Die gebrochene Körperlichkeit des modernen Menschen – hier zeigt sie sich noch brutal und deutlich.
Der Disco-Tanz einer Männerfreizeitgesellschaft in großgeblümten Hemden endet in disparaten Zuckungen, und das Duett eines Herrn mit einer Dame im Abendkleid wird zum permanent von Stürzen bedrohten Desaster. In „St. Nick“ (1989) wird im sich immer wieder aufbrechenden Spiel vor allem von der Lust am Tanzen erzählt: Theater im Theater. Ein Paar versucht sich zu gängigen Musiken der verschiedensten Genres an den passenden Bewegungsabläufen und verkehrt sie immer wieder ins Absurd-Komische. Ist schon in diesen beiden Stücken der Humor fremder und ästhetischer, als es sich beim Nacherzählen anhören mag, in den neueren Arbeiten „Arto's Books“ von 1991 (ursprünglich für das Nederlands Dans Theater II konzipiert) und „Night, by itself“ (1993) hat sich jegliche Direktheit verflüchtigt. Zerstreut führen die Menschen ihre Gesten aus, die ersten Impulse werden unterbrochen von einem Nachdenken, das sich versucht zu erinnern an den Sinn, der nicht mehr aufgespürt werden kann. In „Arto's Books“ gibt es noch Orientierungen. Die Tänzer formieren sich immer wieder in Geraden und Diagonalen, als gäbe es ein physikalisches Gesetz, das sie in der Geometrie des Raumes zusammenführen und Kontaktaufnahmen der Körper ermöglichen würde. In „Night, by itself“ gibt es keine Ordnung mehr, die Menschen befinden sich in einem zeitlichen Nirgendwo. „In einer Epoche, die durch die technologische Beschleunigung der Verkehrsmittel, der Information und Kommunikation geprägt ist, auch durch das, was man die Beschleunigung der Geschichte nennt, scheint es, daß der Tanz ein anderes Zeitmaß der Bewegung sucht, indem er die Zustände des Körpers erinnert“, so der Tanztheoretiker Jean-Marc Adolphe. Eine Tanzentwicklung, der auf höchst eigenwillige Weise auch Amanda Miller angehört. Michaela Schlagenwerth
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