■ Interview mit Jürgen Seifert zum BND-Gesetzentwurf
: Wie man das Grundgesetz unterläuft

taz: In der kommenden Woche wird der Bundestag einen Gesetzentwurf über neue Befugnisse des BND zur Fernmeldeüberwachung behandeln. Sie haben schon vor einem Jahr in der taz davor gewarnt. Hat die kritische Öffentlichkeit das Thema bislang verschlafen?

Jürgen Seifert: Einige erheben in solchen Fällen den Vorwurf des „Alarmismus“; aber weil die Öffentlichkeit geschlafen hat, stehen heute Befugnisse im Gesetzentwurf, von denen der BND vor einem Jahr noch nicht zu träumen wagte. Es geht nicht mehr um die Weitergabe von „Zufallsfunden“ aus der Fernmeldeüberwachung nach der „Staubsaugermethode“, sondern um grundlegend neue Kompetenzen für den BND, die geeignet sind, alle bisherigen Sicherungen zu unterlaufen.

Welche?

Jedesmal, wenn wir ein Gespräch mit dem Ausland oder im Ausland führen, müssen wir in Zukunft damit rechnen, daß der BND mit seinen technischen Großanlagen alles auffängt, was über Satelliten, Richtfunk oder Kurzwelle geht. Der BND darf mit Hilfe bestimmter „Suchbegriffe“ alles herausfiltern, was für seinen auf bestimmte Bereiche (z.B. Drogen- und Waffenhandel, Terrorismus, Geldwäsche etc.) erweiterten Auftrag relevant sein könnte. Die „Suchbegriffe“ werden vom BND entwickelt, „benannt“ und vom „G10“-Gremium des Bundestages genehmigt werden. Es ist zweifelhaft, ob das (ebenso wie die vorgesehene Kontrolle) eine effektive Sicherung darstellt.

Für ausländische Fernmeldeanschlüsse darf er sogar Identifizierungsmerkmale verwenden, „die zu einer gezielten Erfassung bestimmter Fernmeldeanschlüsse führen“. Der BND wertet die Ergebnisse selbst aus und gibt das, was er für wichtig hält, an Verfassungsschutz, MAD, Zoll und Strafverfolgungsbehörden weiter.

Das alles soll mit dem Grundgesetz vereinbar sein. Eine Verfassungsänderung ist doch nicht vorgesehen?

Union und FDP versuchen, das Grundgesetz zu unterlaufen. Man tut so, als sei der verfassungsrechtlich garantierte Rechtsweg nicht ausgeschlossen. Aber wer kann ein Gericht anrufen, wenn er nicht unterrichtet wird? Der BND und die genannten Instanzen können 89 Tage lang den Inhalt von „Erkenntnissen“ zur Kenntnis nehmen. Sie müssen nur aufpassen, daß sie ihn nach drei Monaten vernichten. Dann brauchen sie niemanden zu unterrichten. Ich bezweifle, daß die Koalition damit vor dem Bundesverfassungsgericht durchkommt.

Was muß geschehen, wenn die Aufzeichnungen nicht vernichtet werden?

Für diese Fälle besteht abstrakt eine Pflicht zur Benachrichtigung; aber auch das kann unterlaufen werden mittels der Behauptung, eine Gefährdung des Zwecks der Maßnahme könne „nicht ausgeschlossen werden“ (in der Strafprozeßordnung heißt es: „... sobald dies ohne Gefährdung des Untersuchungszweckes geschehen kann“).

Was geschieht mit einer Aufzeichnung eines Gespräches zwischen einem Londoner und einem Pariser, wenn beide Anschlußteilnehmer identifiziert sind? Gilt dann auch die Unterrichtungspflicht?

Nach dem Grundgesetz muß die Unterrichtung auch für diesen Personenkreis gelten. Artikel 10 ist (das wird in keinem Grundgesetzkommentar bestritten) ein Menschenrecht. Doch das ignoriert der Entwurf. Man hat seit der Errichtung der Anlagen keine ausländischen Fernmeldeteilnehmer unterrichtet und will das in Zukunft wohl weiter so handhaben. Schon seit 1969 gibt es den verfassungsrechtlich unhaltbaren Begriff: „nach Art. 10 geschützte Personen“. Ein Menschenrecht wurde bürgerrechtlich-territorial eingeschränkt, das heißt, es wurde reduziert auf Fernmeldeanschlüsse in der Bundesrepublik und auf deutsche Staatsangehörige.

Dem Gesetzentwurf zufolge soll es auch eine „Amtshilfe“ des BND geben?

Der Begriff Amtshilfe ist hier eine Bagatellisierung. Die Großtechnologien des BND sollen zusätzlich auch gezielt im Rahmen der bisherigen Individualüberwachung von Fernmeldeanschlüssen unter Verwendung zusätzlicher „Suchbegriffe“ eingesetzt werden können. Dabei soll nichts ausgeschlossen sein. Einziges Kriterium ist, daß die Suchbegriffe geeignet sind (z.B. durch Eingabe der Stimme), „den Fernmeldeverkehr des Betroffenen zu erfassen“.

Wo sehen Sie besondere Gefahren?

Erstens: Der BND entzieht sich weitgehend einer effektiven Kontrolle. Zwar nicht juristisch, aber faktisch entscheidet der BND über die eingesetzten „Suchbegriffe“. Erfassung und Auswertung des BND werden unkontrollierbar.

Zweitens: Neue „Zufallsfunde“ aus dem innerdeutschen Fernmeldeverkehr sind vorprogrammiert. Zwar gibt es keine Zugriffsbefugnis an den BND für diesen nicht leitungsgebundenen Fernmeldeverkehr, aber auch kein ausdrückliches Verbot. Das ist problematisch, weil heute fast alle Ferngespräche über Richtfunk laufen und damit vom BND erfaßt werden können.

Kommt der Gesetzentwurf durch?

Union und FDP haben im Bundestag die Mehrheit, die sie ausnutzen werden. Die FDP kann sich neben dem Großen Lauschangriff und der Ablehnung der Kompetenzerweiterung des Verfassungsschutzes für Organisierte Kriminalität vermutlich keine weitere Bruchstelle leisten. Von den Experten der Bonner SPD-Fraktion droht dem Entwurf keine Gefahr. Aber es fragt sich, ob die SPD als Partei neben dem Großen Lauschangriff noch einen weiteren aus dem Äther in Kauf nimmt. Diejenigen, die für den Großen Lauschangriff damit argumentiert haben, zugleich die richterliche Kontrolle bei der Überwachung des Fernmeldegeheimnisses zu verbessern, stehen jetzt blamiert da. Ich habe immer darauf hingewiesen, daß der Große Lauschangriff, die elektronische Fernmeldeaufklärung des BND und eine Erweiterung der Zuständigkeit des Verfassungsschutzes auch für Organisierte Kriminalität im Zusammenhang behandelt werden müssen.

Gegenpositionen?

Die Bundesrepublik muß lernen, nicht alles zu machen, was die Amerikaner sich erlauben können. Die Zuständigkeit des BND sollte beschränkt bleiben auf die Auslandsaufklärung. In diesem Bereich könnten seine Kompetenzen auch erweitert werden. Doch wenn der BND auch zuständig wird für das Erfassen des Fernmeldeverkehrs von der Bundesrepublik ins Ausland und vom Ausland in die Bundesrepublik, wird zwangsläufig die bisher geltende Trennung zwischen Auslandsnachrichtendienst und Inlandsaufklärung tangiert. Gelingt es nicht, die Pläne zu verhindern, sind wir auf dem Weg in eine Republik, in der Geheimdienste (vermutlich auch aus Mißtrauen gegenüber dem eigenen Volk) immer weiter ausgebaut werden, womit aber – das ist schon heute gewiß – Massenkriminalität nicht wirklich eingedämmt werden kann. Interview: Wolfgang Gast

Jürgen Seifert ist em. Professor für politische Wissenschaften in Hannover.