Trauerarbeit

Von der „Unfähigkeit zu trauern“ zur Unfähigkeit, Politik von Psychokitsch zu unterscheiden  ■ Von Michael Rutschky

Irgendwann ist es soweit. Der Berliner Reichstag kann, restauriert, umgebaut und drastisch verschönert, mit einer feierlichen Sitzung des Deutschen Bundestages wiedereröffnet werden, natürlich am 3. Oktober, dem Nationalfeiertag. Damit ist der Umzug der Bundesregierung in die Hauptstadt abgeschlossen.

Im Kabinett wurde, wie verlautet, ungewöhnlich lange und intensiv darüber diskutiert, wer die Festrede halten soll. Schließlich kann sich der Bundeskanzler mit seinem persönlichen Wunsch durchsetzen: Niemand anders als, wie es im Kabinettsbeschluß heißt, der vom Bundespresseamt veröffentlicht wird, „die grande dame der deutschen Trauerarbeit, der unser Volk solche außerordentlichen Gewinne an Einsicht und Einfühlung verdankt...“

Und Margarete Mitscherlich, wiewohl schon sehr gebrechlich, nimmt die Einladung an. Was sie zu sagen hat, wird die Parlamentarier nicht überraschen; Philologen, die sich freilich diese Arbeit ersparen werden, könnten ihre Rede an diesem hochsymbolischen Ort bei dieser schwerrepräsentativen Gelegenheit leicht als Klitterung diverser Statements aus den letzten Jahrzehnten, vom PC angefertigt, entlarven.

„Es gibt“, wird sie beispielsweise vom Blatt lesen, „viele Arten von Verlust und von Trauer um Verlust: Trauer um versäumte Trauer, Trauer um sich selbst, weil wir nicht trauern konnten, Trauer als Mitglied eines Kollektivs, Trauer um dessen ,Idole‘ und Untaten, Trauer um die Opfer...“ Das geht schon ewig so und noch ewig so weiter. Um sich den Vorwurf des Zynismus und der Menschenverachtung zu ersparen, werden die Fernsehkameras die Reihen der schlummernden Parlamentarier – jede Nacht während der Eröffnungsfeierlichkeiten fließen Hektoliter Alkohol – auslassen. Einzig Titanic-TV verstößt gegen die Absprache und widmet dem gänzlich zerlaufenen Gesicht von Altbundeskanzler Kohl ausdauernd liebevolle Großaufnahmen...

Keine Träne für den Führer

Die Karriere, die das Gutmenschentum der Idee der „Trauerarbeit“ verschafft hat, führt zwingend zum Staatstragenden. Sie macht Herzenskälte zur moralischen, ästhetischen und politischen Pflicht.

Dabei hatte alles so vielversprechend angefangen. 1967 veröffentlichen Alexander und Margarete Mitscherlich das Buch mit dem bekannten Titel und eröffnen es mit einer starken These: Die Deutschen seien unfähig zur Trauer um Adolf Hitler gewesen. „Die Unfähigkeit zur Trauer um den erlittenen Verlust des Führers ist das Ergebnis einer intensiven Abwehr von Schuld, Scham und Angst; sie gelingt durch den Rückzug bisher starker libidinöser Besetzungen. Die Nazivergangenheit wird derealisiert, entwirklicht. Als Anlaß zur Trauer wirkt übrigens nicht nur der Tod Adolf Hitlers als realer Person, sondern vor allem das Erlöschen seiner Repräsentanz als kollektives Ich-Ideal. Er war ein Objekt, an das man sich anlehnte, dem man die Verantwortung übertrug, und ein inneres Objekt. Als solches repräsentierte und belebte er aufs neue die Allmachtsvorstellungen, die wir aus der frühen Kindheit über uns hegen; sein Tod und seine Entwertung durch Sieger bedeutete auch den Verlust eines narzißtischen Objekts und damit eine Ich- oder Selbstverarmung und -entwertung.“

Das war eine sozialpsychologische Konstruktion entlang bewährter Konzepte der Freudschen Psychoanalyse. Diese sozialpsychologische Konstruktion hat natürlich nicht das Entfernteste gemein mit Deutungen und Konstruktionen, die der Analytiker im Rahmen der psa. Kur nach langem, intensivem Zuhören mit den Erzählungen des Analysanden vornimmt: Kein einziger Leser des Mitscherlich-Buches kann die zitierte Passage zum Anlaß genommen haben, jetzt endlich seine unterlassene Trauerarbeit um seinen geliebten Führer zu verrichten; nach den strengen Regeln der Psychoanalyse ist das unmöglich.

Vom Genre her gelesen, hat das Buch als Bußpredigt funktioniert. Es war die Zeit der Großen Koalition; der Bundeskanzler, ein ehemaliger NSDAP-Pg., schien die Dauerherrschaft des konservativen Lagers zu stabilisieren, indem er sich Willy Brandt, eben noch als Vaterlandsverräter (weil Emigrant) denunzierbar, als Vizekanzler und Außenminister hielt. Die Große Koalition wollte die Notstandsgesetze verabschieden, von denen große Teile des Oppositionslagers phantasierten, sie seien, in Analogie zu Hitlers Ermächtigungsgesetzen, bestens geeignet, eine diktatorische Machtergreifung Franz Josef Strauß' zu legalisieren. Die offizielle Wiedervereinigungsrhetorik blühte unverdrossen, obwohl schon Brandts Vorgänger Gerhard Schröder die Hallstein-Doktrin gelockert hatte – die BRD unterhält keine diplomatischen Beziehungen zu Staaten, die diplomatische Beziehungen zur DDR unterhalten (Ausnahme: die UdSSR) –, eine Wiedervereinigungsrhetorik, die angesichts der durch den Bau der Berliner Mauer geschaffenen und unterdessen stabilisierten Lage in der Tat nach psa. Konzepten wie „Realitätsverleugnung“ verlangte. Mit einem Wort: It was time for a change.

Repolitisierung durch Trauerrituale

Und daran hat die Bußpredigt der Mitscherlichs im Rahmen der „Repolitisierung der Öffentlichkeit“, die Jürgen Habermas als realistisches Ziel der Protestbewegung vorschrieb, unter zahllosen anderen Beiträgen mitgewirkt. Ich weiß nicht, wie genau sie den Deutungsrahmen für Willy Brandts Kniefall in Warschau vor dem Ghetto- Mahnmal abgab, jedenfalls bekamen wir den Regierungswechsel, die Ostpolitik, die mit der Phantasie aufräumte, der Iwan sei uns die Wiedervereinigung schuldig; Brandt und die SPD errangen 1972 für eben diese Ostpolitik einen Wahlsieg, und zehn Jahre später hielt die neuerlich konservative Regierung unverbrüchlich an ihr fest. Ebenso stabil geblieben ist die politisierte Öffentlichkeit – inzwischen ergreift sie über die Talk- Shows des Privatfernsehens sogar das Proletariat –, in der jetzt, nach dem Zusammenbruch des Iwan, verständlicherweise diskutiert wird, ob die Ostpolitik wirklich die ganze Zeit durch und durch richtig war. Alles in bester Ordnung.

Und die „Trauerarbeit“, was immer man sich für ein Kollektiv darunter vorstellen soll, ein mehr- minder gelungenes symbolisches Ritual, in dem „die Deutschen“ anerkennen, was sie von 1933 bis 1945 angerichtet haben, ist in die offizielle Repräsentation der Bundesrepublik eingegangen. Brandts Kniefall hat eine Tradition gestiftet. Auf dem Weg zur Olympiade in Barcelona macht der Bundespräsident in Port Bou Station, wo Walter Benjamin begraben liegt: „Dies ist ein Schicksalsort deutscher Kultur. Deshalb bedeutet er uns soviel.“ Und an dieser symbolisch-repräsentativen „Trauerarbeit“, die, wie gesagt, nicht das mindeste gemein hat mit der höchstpersönlichen Seelenarbeit, die Freud vor Augen hatte, beteiligen sich unterdessen auch Fraktionen und Apparate, von denen man das nie erwartet hätte, um das mindeste zu sagen: „Ein hauptsächlich von Banken und Industrie getragener Verein ,Wider das Vergessen‘ will die vom Verfall bedrohten Gedenkstätten des früheren Konzentrationslagers Auschwitz retten. ,Viele Millionen Mark‘, die Polen nicht aufbringen könne, seien in den kommenden Jahren zum Erhalt dieses Symbols der Unmenschlichkeit notwendig, erklärte einer der Organisatoren des Vereins...“ Lothar Baier, unmöglich als verkappter Anhänger der „Auschwitz-Lüge“ zu outen, ist die Tüchtigkeit dieser deutschen „Trauerarbeit“ unheimlich geworden: „Ein Wiederaufbaufieber eigener Art hat das Land ergriffen: In Hamburg wird ein Parkplatz geräumt, damit an seiner Stelle die Umrisse der von den Nazis zerstörten Synagoge in den Boden gepflastert werden können, und die benachbarte Fachschule für Bibliothekare erhält den Namen Talmud-Tora-Schule zurück, den sie bis 1938 trug. Die Stadt Darmstadt läßt für zehn Millionen Mark eine neue Synagoge bauen und übergibt der jüdischen Gemeinde einen Sekretär, den die jüdische Gemeinde des 17. Jahrhunderts dem Darmstädter Landgrafen zum Geschenk gemacht hatte. Aber auch in abgelegenen Gegenden läßt man sich nicht lumpen und baut, wie in Schweich an der Mosel, die zerstörte Synagoge wieder auf. Frankfurt krönt die Reihe seiner überregional bekannten Museen mit der Errichtung des Jüdischen Museums im alten Rothschildpalais. Landauf, landab vermehren sich die Erinnerungstafeln und Gedenksteine, so als sei von zentraler Stelle die Parole ausgegeben worden, daß die Bundesrepublik sich bis in die Gestaltung ihrer Hinterhöfe hinein als ein Land Gedenkender und Erinnernder zu präsentieren hat.“ Es ist diese tüchtige Repräsentationstätigkeit, die unwiderstehlich zur Eröffnung des Deutschen Bundestages im Berliner Reichstag durch die greise Margarete Mitscherlich hinführt, auf Wunsch des Kanzlers, der zu Recht die „grande dame der deutschen Trauerarbeit“ an der richtigen Stelle plaziert sehen will.

Reprivatisierung des Politischen

Die Gutmenschen freilich sind's nicht zufrieden. Weil zwischen der symbolischen Staatsaktion und der persönlichen Seelenarbeit eine unschließbare Lücke klafft, möchte das Gutmenschentum jederzeit anklagend und warnend auch außerhalb der Rednerliste seine Stimme erheben können und fragen, ob „die Deutschen“ wirklich ihre Trauerarbeit tüchtig verrichtet haben, eine unbeantwortbare Frage. Wenn Tilmann Moser bezweifelt, daß die ursprüngliche sozialpsychologische Konstruktion trägt – „die Deutschen“ haben nach dem Krieg zunächst um ihre persönlichen Toten getrauert und sich für ihre Führerliebe durch die Bombardements und die Niederlage ordentlich bestraft gefühlt –, dann dürfen ihm Frau Margaretes Ritter prompt nachsagen, er wolle sich statt in die Opfer – wie es dem korrekten Trauerarbeiter ziemt – halt in die Täter einfühlen, wie es dem neuerdings wieder stark deutschistischen Zeitgeist entspreche1. Natürlich darf auch Jürgen Habermas nicht fehlen, wenn es einen Deutschisten zu outen gibt. Weist Eckhard Henscheid in der FAZ nach, daß schon in dem Buch von 1967, erst recht in den Äußerungen der folgenden Jahre das Konzept der Trauerarbeit seine Verankerung in der massenpsychologischen Konstruktion verliert und als allseits bereite Wunderwaffe über jedem beliebigen Problemfeld gesichtet werden kann, so weigert sich Habermas höhnisch, dem Wahrheitsgehalt der These nachzugehen; Henscheid sei literarisch und intellektuell inkompetent, die von der FAZ veröffentlichte Kritik solle bloß dem debunking der Mitscherlichs dienen, damit das neue deutschistische Deutschland sich von ihnen als Mahnern und Wachern abwenden kann. Daß wir in der modernen Welt Macht- und Wahrheitsansprüche auseinanderhalten müssen; daß die These der Mitscherlichs zu bezweifeln nicht einfach bedeutet, sie zu entmächtigen – auf diesen Nachweis hat Habermas übrigens viel von seiner theoretischen Arbeit verwendet. Aber wenn das Gutmenschentum sich in seinen eigenen Machtansprüchen bedroht fühlt, verliert es jede Hemmung.

Dies also ist die Lage: Einerseits ist auf dem symbolisch-repräsentativen Feld offizielle deutsche „Trauerarbeit“ mannigfaltig zu besichtigen; andererseits fährt das Gutmenschentum fort, bei „den Deutschen“ die Trauerarbeit „einzuklagen“, wie ein anderes Lieblingswort aus seinem Wörterbuch lautet. Die Erklärung des Widerspruchs ist einfach: Anhaltend mahnend und warnend sichert sich das Gutmenschentum Redezeit auf dem Feld der deutschen „Trauerarbeit“, was ja nur gelingen kann, wenn der Bußprediger immer wieder behaupten darf, die Aufgabe sei im Grunde noch gar nicht angegangen.

Das Therapeutenpack, eine besonders aktive Fraktion des Gutmenschentums, läßt schon erraten, was es auf der grünen Wiese vor dem Berliner Bundestag, dem Platz der Republik, für einen Rummel abziehen wird, während die grande dame der deutschen „Trauerarbeit“ drinnen ihre Festrede abliest:

„Großes Trauerritual 14.2. bis 20.2. 1994. Kennen auch Sie depressive Verstimmung, Leistungsblockaden, psychosomatische Störungen, Beziehungsprobleme? Ursachen können u.a. auch nicht geleistete Trauer sein. Verluste von Menschen, Bedürfnissen, Lebenszielen werden unverarbeitet zur großen Lebensblockade. Trauerarbeit bedeutet über die Schwelle gehen. Mit Imagination, Ausdruckstanz, Drama und Gestaltarbeit bereiten wir den Weg über die Schwelle vor. Der ganze Mensch soll ergriffen werden, zu neuem Selbst kommen. Unterkunft, Verpflegung und Seminargebühren DM 1.050, Leitung Henry G. Titze, Autor, Psychotherapeut und Renate Fischer-Titze, Dipl. Psychologin.“ (SZ vom 29.1. 1994)

P.S. Ich muß noch verraten, was ich unterdessen von der ursprünglichen Konstruktion halte, „die Deutschen“ seien unfähig gewesen, um Hitler und dann auch irgendwie um seine und ihre Opfer zu trauern. Die Verlegen- und Geschmacklosigkeiten der offiziellen, symbolisch-repräsentativen „Trauerarbeit“ einerseits, die anhaltenden, von Hohn, bisweilen offener Wut gespeisten Bußpredigten des Gutmenschentums andererseits lehren für meine Begriffe, daß Trauerarbeit im strikten psa. Sinne, als schmerzhafte Anstrengung einer Person, einen tiefen persönlichen Verlust zu verkraften, Kriegstote unmöglich zu ihrem Gegenstand machen kann. Daß „wir“ Auschwitz durch Trauerarbeit „bewältigen“ können, und zwar unter seiner Anleitung, ist eine Größenidee des Therapeutenpacks, das sich ja auch für Folteropfer aus Bosnien etc. zuständig erklärt. Niemand anderes als Max Goldt hat mit unvergleichlichem Takt gezeigt, was geschieht, wenn man gegenwärtig persönlich Kontakt zum Thema aufnimmt. (Vgl. „Ich beeindrucke durch ein seltenes KZ“. In: Max Goldt: „Quitten für die Menschen zwischen Emden und Zittau“. Zürich, Haffmanns 1993, S. 204-208.

1 Christian Schneider: „Jenseits der Schuld? Die Unfähigkeit zu trauern in der zweiten Generation“; Dieter Rudolf Knoell: „Die doppelte als einseitige Vergangenheitsbewältigung. Tilman Mosers analytisch-therapeutischer Beitrag zum geistigen Wiederaufbau“. In: „Psyche“, Bd.47 (1993), S. 757-794.