: „Die Nato-Flugzeuge klingen wie Musik“
In Sarajevo war auch kurz vor Ablauf des Nato-Ultimatums unklar, wie viele Waffen an die UNO abgegeben worden sind / Doch die Stadt hofft weiter auf die „Wende zum Besseren“ ■ Aus Sarajevo Erich Rathfelder
Die Militärfahrzeuge haben im Schnee tiefe Spuren hinterlassen. Der so geschaffene Weg führt auf den Hügel Mojmile, von dem aus ein Ausblick auf die serbischen Stellungen bei Lukavica möglich ist. Nur das ab und zu aufbrausende Geheul der Düsenbomber der Nato unterbricht schroff die sonst herrschende ungewohnte Stille. Denn hier, oberhalb des seit 22 Monaten umkämpften Vorortes Dobrinja, waren die bosnischen Soldaten den Beschuß durch Artillerie und Maschinengewehrfeuer gewohnt. So liegen ihre Unterstände tief eingegraben in den Hügel über der Stadt. Doch seit Beginn des zehntägigen Ultimatums der Nato ist kein Schuß mehr vernommen worden. „Die serbischen Truppen haben sich hier tatsächlich an den Waffenstillstand gehalten, allerdings sind zwei Menschen durch Scharfschützen in der Stadt ums Leben bekommen“, erklärt ein französischer Soldat, dessen Patrouille zu dem Beobachtungsposten der Unprofor abkommandiert ist.
An Minenfeldern vorbei führt der Trampelpfad nahe am Bergkamm entlang. Gegenüber, in einem Wäldchen, sind Unterstände der serbischen Truppen zu sehen. Und als dann schließlich der UNO- Kontrollposten erreicht ist, weitet sich das Blickfeld. In der geteilten Trabantenstadt Dobrinja ist deutlich die Demarkationslinie zu erkennen. In der Mitte einer breiten Straße verläuft sie, die Häuser linker und rechter Hand scheinen leerzustehen. Doch schon in den Nachbarblocks regt sich Leben, Leute sind zu sehen, Autos stehen herum, Kinder spielen im Schnee. Und am Ende der Straße weht über einem Gebäude die blaue Fahne der UNO. „Dort sitzen unsere Kollegen und überwachen den Waffenstillstand“, bedeutet der französische Soldat.
Wo befinden sich die serbischen Waffen?
Nichts zu erkennen ist dagegen in dem Dorf Lukovaca, wo sich die Kasernen der serbisch-bosnischen Armee befinden. Selbst durch ein Fernglas ist das Dorf, in dem sich auch Artillerie befinden soll, nur schemenhaft zu erahnen. „Das Gros der Artilleriestellungen müßte jedoch auf dem nächsten Hügel hinter Lukovaca zu finden sein“, erklärt der Kommandant des UNO-Postens. Und auch in dem Wald auf dem Bugosevica- Hügel wurden die Stellungen, von denen über 22 Monate lang die Stadt Sarajevo beschossen wurde, versteckt.
Ob die serbischen Waffen sich nun unter der Kontrolle der UNO- Truppen befinden, möchte der Kommandant der französischen Soldaten nicht bestätigen. Dies sei außerhalb seines Verantwortungsgebietes, er habe hier nur die Aufgabe, den Beobachtungsposten zu führen. „Darüber müssen sie schon Auskunft von höherer Stelle suchen.“ Nicht kommentieren möchte er auch den Umstand, daß es der UNO nicht gelang, die serbische Seite davon zu überzeugen, Journalisten als Augenzeugen des Abzugs an die serbischen Stellungen zu lassen. Von hier aus jedenfalls läßt sich keineswegs überprüfen, ob es zu dem angekündigten Rückzug überhaupt gekommen ist.
Immerhin, die wenigen Menschen, die noch in ihren halbzerstörten Häusern auf dem der Front abgewandten Teil des Hügels wohnen, haben Hoffnung, daß diesmal endlich etwas zu ihren Gunsten entschieden wurde. „Die Flugzeuge der Nato klingen für mich wie Musik“, erklärt ein älterer Mann, dessen Frau und zwei seiner Söhne durch eine Artilleriegranate ums Leben kamen. Und eine junge Frau, die ihr Kind in den Armen hält, ist froh, daß wenigstens für zehn Tage Ruhe herrschte.
Eine UNO-Ration für zwei Wochen
In der Siedlung Mojmilo, die am Fuße des Hügels liegt, lärmen nur die Kinder, die sich im Schnee und auf den selbst geschaffenen Rodelbahnen tollen. „Das Schlimmste ist jetzt der Hunger, wir haben fast nichts zu essen, die Ration, die gestern ausgeteilt wurde und für zwei Wochen reichen soll, ist noch schmaler ausgefallen als früher“, erklärt eine Frau, die ihre Tränen kaum zurückhalten kann. „Ein bißchen Reis, ein bißchen Mehl, kein Obst oder Gemüse, nicht mal Zucker gab es diesmal.“
Mit dem Auto geht es zurück in die Stadt, entlang der „Scharfschützen-Allee“, auf der sich vor Tagen nur gepanzerte Fahrzeuge bewegen konnten. Rechter Hand ragen die Wohnblocks von Grbavica auf, dem Stadtteil, der von der serbisch-bosnischen Armee beherrscht wird. Von der Allee aus ist nicht zu erkennen, was sich dort tut. Die bosnische Regierung hat jedoch mitgeteilt, daß von serbischer Seite Waffen nach Grbavica gebracht – und nicht abgezogen wurden. 15 Panzer wären dort zusätzlich eingetroffen, im ganzen seien die serbischen Truppen mit sechzig T-55-Panzern und zehn T84 verstärkt worden. Hinzu kämen einige Dutzend Haubitzen des Kalibers 155, 152 und 122, allesamt tödliche Waffen für die Stadt, würden sie eingesetzt.
Die Panzer der bosnischen Armee
An der Tito-Kaserne gibt es keine Schwierigkeiten, Einlaß zu finden. Hier hat die bosnische Armee den UNO-Soldaten ihre schweren Waffen zur Kontrolle übergeben. Auch die beiden Panzer, über die die Armee verfügte, sind abgeliefert worden. Einige Artilleriegeschütze sind zu sehen. Doch die UNO-Soldaten lassen weitere Inspektionen nicht mehr zu. Mit unmißverständlichen Gesten werden die Besucher aus der Kaserne gewiesen.
Eine Bestätigung für die Zahl der nun unter UNO-Kontrolle stehenden bosnischen Waffen wird von UNO-Seite verwehrt. Am Samstag abend und am Sonntag morgen wurden die Pressekonferenzen abgesagt. Dafür treten am Sonntag mittag Yasushi Akashi, der persönliche Beauftragte des UNO-Generalsekretärs Butros Butros Ghali für Ex-Jugoslawien, und der bosnische Präsident Alija Izetbegović vor die Kameras.
Obwohl Akashi in seinen Aussagen allgemein bleiben will und an der Linie der UNO-Offiziellen festhält, möglichst nichts zu sagen, muß er doch zugeben, daß die UNO bisher, zwölf Stunden vor Ablauf des Ultimatums, keineswegs die Kontrolle über alle serbischen Waffen in der 20-Kilometer- Zone um Sarajevo herum übernommen hat. 80 Prozent der Waffen würden kontrolliert. Das schlechte Wetter, so führt er an, sei von den Serben als Grund für Verzögerungen angegeben worden. Mit versteinerter Miene erwidert Präsident Izetbegović, das Abkommen müsse auch von der serbischen Seite vollständig eingehalten werden. „Wir, die bosnische Seite, haben alle Forderungen der UNO und der Nato erfüllt.“
In der Stadt sind die Menschen schon über die Statements der beiden Politiker informiert. „Die UNO will die Amerikaner bremsen, den Luftangriff zu fliegen“, erklärt eine ältere Frau. „Ich will nicht, daß auf der anderen Seite Menschen sterben und daß die durchmachen, was wir durchgemacht haben“, befindet dagegen ein junger Mann. „Es täte mir leid, wenn noch mehr von Bosnien zerstört würde, aber es muß etwas geschehen, damit der Krieg aufhört. Die Serben sollten sich an das Ultimatum halten.“ Ein älterer Mann erinnert daran, daß es Tito 1948 und 1968 gelungen war, die Russen von Jugoslawien fern zu halten. „Jetzt gehen russische Soldaten in die sogenannte „Hauptstadt“ der bosnischen Serben, Pale, um die serbischen Aggressoren zu beschützen.“
Die Rolle der russischen Blauhelme
Noch ist unklar, ob die 400 russischen Soldaten, die eigentlich nach Sarajevo kommen sollen, in Pale „steckenbleiben“. Sollten sie nach Ablauf des Ultimatums auf serbischer Seite sein, könnte ein Bombenangriff der Nato auf serbische Stellungen auch sie treffen und so unübersehbare Konsequenzen mit sich bringen. Der „russische Faktor“ ist jedoch nicht das Hauptthema der Diskussionen. Gefragt wird vor allem, wie die serbische Seite auf Nato-Angriffe reagieren würde. „Wenn nicht alle Waffen unter Kontrolle stehen, werden sie schießen und ein Blutbad anrichten wollen“, erklärt ein bosnischer Journalist. „Mit den Waffen in Grbavica werden sie versuchen, den Krieg wieder in die Stadt zu bringen.“ Schon hat die Regierung die Bevölkerung Sarajevos aufgefordert, die Schutzräume nach Ablauf des Ultimatums aufzusuchen.
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