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Verdrängungsbilder

■ Zurück in Hanoi:Robert Kramers „Point de départ“

Die Aufteilung der Welt mit all ihren gewohnten Gegensätzen hat sich gewandelt. Die Begriffe wurden getauscht (Ost – West gegen Nord – Süd), die systematische Destabilisierung ihrer Bedeutungen ist selbst schon wieder zur Gewohnheit geworden. Und was macht der Film? Er liefert Bilder für diesen Tausch.

Der „Osten“, der sich von Frankfurt/Oder bis Hanoi erstreckt, geht als Gespenst um: nicht mehr eine Utopie, sondern mysteriöse Landschaft von Projektionen der Westler, die hier ihre Identität suchen und ihre Traumata ausleben. Diese „Ost“-Filme sind höchst merkwürdige Zeugnisse einer Generation, die durch den Fall des „Ostens“ gezwungen scheint, ihre Biografie zu überdenken. Sie tut es, indem sie Bilder mystifiziert und mit dem Tausch des Objektiven und Subjektiven, Gegebenen und Projizierten, Eigenen und Fremden spielt, was letztlich den Tausch von Osten und Westen nach sich zieht.

In den „Osten“, der jetzt „Süden“ heißt, begibt sich Robert Kramer mit seinem neuen Vietnam- Film „Point de départ“ („Ausgangspunkt“). Er geht in jenes Land, wo er vor 23 Jahren „Volkskrieg“ gedreht hatte, trifft seine vietnamesischen Kameraleute von einst. Sie suchen ihre alte Kamera. Die Erinnerung an damals soll auf das Bild von heute prallen. „Damals“ – das sind verrostete Filmbüchsen, die materialisierte Erinnerungen bewahren. Auch ein Interview mit Linda Evans, damals in den USA zu 40 Jahren Gefängnis verurteilt, die – zwischen Lächeln und Tränen – über ihre Generation und Vietnam spricht. Das „Heute“ ist präsent in den Bildern: Hanois Straßen, Häuser, Menschen. Kramer läßt seine Subjekte kaum sprechen, damit die Vollkommenheit der Bilder und ihr Geheimnis, ihre Mystik, nicht zerstört werden. Der „Osten“ – mit seinem photogenen Verfall und der Armut, mit seiner unbegreiflichen Stärke „damals“ und seiner nicht weniger unbegreiflichen Schwäche „heute“ – er bleibt ein Rätsel.

Kramer hat eine bekannte Dissidentin vor der Kamera, doch er fragt sie nichts. Die Worte werdenvom Bild verdrängt. Die Kamera verharrt auf den Beinen einer Hochseilartistin, die das Gleichgewicht sucht. Kommentar zu einem Land zwischen Abschied von kommunistischer Zukunft und Umkehr zur Marktwirtschaft? Eine junge Frau meint, sie wolle ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Kramer filmt, wie ihre Nägel durch Maniküre künstlich verformt werden. Er glaubt, die Worte lügen. Die Bilder – vielleicht – nicht. Er nähert sich dem neuen Vietnam vorsichtig – es ist eine Annäherung an sich selbst, an die eigene Geschichte, an eigene Meinungen und Überzeugungen, für die der Osten sich als ein gefährlicher Prüfstein erweist. Bilder, erst recht Photos, sind materielle Gedächtnisträger. Filmen heißt: Gedächtnis produzieren.

Die Vietnamesen können sich solches Gedächtnis bislang kaum leisten. Kramer beginnt seinen Film mit einem Zitat des Filmemachers Chris Marker: „Ich frage mich, wie können die Menschen sich erinnern, wenn sie nicht filmen...“ Doch Kramers Bilder vermögen dieses Erinnern paradoxerweise genauso zu verdrängen wie Worte. Oksana Bulgakowa

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