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„Bald kommt meiner hier vorbei“

Bei BMW in Regensburg laufen die Bänder anders als sonst in der Republik / Schichtmodell sorgt für Zufriedenheit und Identifikation mit der Firma  ■ Von Annette Jensen

In der BMW-Werkshalle hängen Puppenbilder und Gedichte. Johanna Schoierer hat sie an ein Metallgitter geklebt. Doch jetzt gelten ihre Blicke einem Paar grauer Türverkleidungen auf einem Ständer, der wie ein überdimensionierter Handtuchhalter aussieht. Sie klemmt die Flachteile zwischen die Arme, legt sie auf einen wenige Schritte entfernten Tisch und studiert kurz den angeklebten Computerausdruck. Flink gleiten ihre Hände über die pelzige Oberfläche und das Metallsieb der kleinen runden Boxen. Alles in Ordnung. Die Verschalungen verschwinden fast lautlos mit einem gelben Lift nach oben auf eine Empore, wo das Band weitergleitet.

650 BMWs werden täglich in Regensburg im modernsten Werk der Nobelkarossenfirma gebaut – angefertigt nach den jeweiligen Wünschen der Kunden. Insgesamt 5.800 Leute arbeiten in den flachen, weißgestrichenen Werkshallen weit draußen vor der Domstadt und verdienen dafür jeden Monat zwischen 3.250 und 4.900 Mark – über ein Drittel mehr, als im Tarifvertrag festgeschrieben ist.

„Endkontrolle mach' ich gerne“, sagt die Johanna Schoierer, die jeden zweiten Tag an einem anderen der fünf Arbeitsplätze in ihrem Bereich steht. Insgesamt neun Stunden lang prüft sie heute Türverkleidungen, unterbrochen von einer halbstündigen und vier bis fünf kürzeren Pausen. Ab und zu schmerze ihr Rücken oder ein Arm, aber das sei ja normal, meint die 38jährige, die einen Blümchenpullover über ihre blaue Latzhose gezogen hat. „Lieber mehr Stunden arbeiten und dafür weniger Tage“, ist ihr Standpunkt zum Schichtmodell bei BMW in Regensburg. „Das ist besser für meinen Sohn.“ Und sie selbst muß die über einstündige Anreise mit dem Bus nur vier- und manchmal sogar nur dreimal pro Woche auf sich nehmen. Ab und zu klingelt Johanna Schoierers Wecker allerdings auch samstags schon um drei Uhr früh. Ja, das sei nicht so schön. Aber jeder Job habe halt seine Nachteile. „Gut, schlecht – man muß halt sein Geld verdienen.“

„Es war eine politische Entscheidung. Die wollten damals die Samstagsarbeit durchsetzen“, meint der Betriebsratsvorsitzende Hans-Günther Niklas mit forscher Stimme. Der junge Mann mit den dichten dunklen Haaren sitzt an einem runden Ledertisch und spielt mit einer Klarsichthülle. Auf dem Kalenderbild an der Wand hinter der Sitzgruppe parkt ein rot-grüner BMW über einem rosaroten Wolkenmeer. „Aber“, Niklas grinst, „wir haben die Samstagsspätschicht verhindert. Und viele Zusatzvereinbarungen durchgesetzt.“ 120prozentiges Weihnachtsgeld, Erfolgsbeteiligung, zwei Ausbildungstage, längere Pausen, langsamere Bandgeschwindigkeiten und nicht zu vergessen: fast zweitausend zusätzliche Arbeitsplätze sind hier in Regensburg durch das neue Arbeitszeitmodell entstanden – eine beachtliche Zahl in der strukturschwachen Region am Rande des Bayerischen Walds.

Geplant wurde das Regensburger Werk, in dem heute ausschließlich die BMW-3er Reihe gefertigt wird, Anfang 1983. Schon damals stand die 35-Stunden-Woche auf der Forderungsliste der Gewerkschaften. Die Geschäftsführung des Münchner Konzerns rechnete damit, daß sich die Arbeitszeit in den nächsten Jahren weiter verkürzen würde. Um nicht notgedrungen auch die Maschinenlaufzeiten herunterzufahren, entwickelte man in der Chefetage das Drei-Schicht-Arbeitszeitmodell.

Die IG Metall hat bis heute noch keine Zustimmung zu dem Regensburger Vertrag gegeben – wegen der Samstagsschicht. Es herrscht inzwischen offiziell Stillschweigen zu der Frage. Nur zögernd erinnert sich Niklas, daß er und seine Betriebsratskollegen 1986 „mit etwas gebückter Haltung durch Deutschland gingen“. Aber – er lacht kurz auf, selbst Franz Steinkühler war damals hier und konnte nichts ändern. „Wir haben ja schließlich auch nicht gegen den Tarifvertrag verstoßen“, ist es ihm noch wichtig nachzuschieben. Und flugs wendet sich der Betriebsrat wieder der Gegenseite zu: Ob sich das 99-Stunden- Modell nach all den Zusatzvereinbarungen für die Firma überhaupt lohne – er bezweifelt das. Aber dank des Engagements der Arbeitnehmervertretung für gute Rahmenbedingungen stieße das Arbeitszeitmodell jetzt auf breite Zustimmung in der Belegschaft. „90 Prozent wollen da nicht mehr raus“, ist er überzeugt.

Auch Walter Meyer, erster Bevollmächtigter der IG Metall in Regensburg, geht inzwischen davon aus, daß die Mehrzahl der BMWler zufrieden mit dem System ist. Gemächlich lehnt er sich in seinem Schreibtischstuhl zurück. „Die haben mehr freie Tage. Viele bauen da an ihrem Häuschen oder arbeiten schwarz“, glaubt er. In der Geschäftsstelle werde das Thema heute nicht mehr diskutiert. Nur Forscher von der Uni kämen ab und zu deswegen vorbei, und er selbst werde zu öffentlichen Veranstaltungen eingeladen. „In den achtziger Jahren haben wir eine Umfrage bei den Gewerkschaftsmitgliedern im Betrieb gemacht“, erzählt er und kramt einen Hängeordner aus dem Schrank. Die Stellungnahmen auf den DIN- A5-Zetteln sind sehr differenziert; die meisten Schreiber zählen Vor- und Nachteile auf. „Ich glaube, wir haben damals gesagt, die Mehrheit wäre zum Streik bereit“, erinnert sich Meyer. Aber es scheint, als ob er das selbst nie so recht geglaubt hat – denn eben erst hat er erwähnt, daß von den zwanzigtausend Bewerbern damals nur die einen Job bekamen, die grundsätzlich bereit waren, auch samstags zu arbeiten. „Na ja, wenn man mit solch einem System Arbeitsplätze schaffen kann, dann schaut man schon mal über den einen oder anderen Samstag hinweg“, meint er heute gelassen.

BMW-Pressesprecher Rudolf Ebneth versichert, daß sich das Arbeitszeitmodell trotz aller Zusatzvereinbarungen auch heute noch für die Firma rechne: „Wir haben das Werk in den achtziger Jahren absichtlich zu klein gebaut und von Anfang an auf längere Maschinenlaufzeiten ausgelegt.“ 160.000 Autos sollten hier im Jahr aus den Werkstoren rollen; das sei aber nur möglich, wenn die Bänder länger als die normalerweise üblichen sechzehn Stunden an fünf Wochentagen laufen.

Der grauhaarige Mann mit der Goldbrille faltet einen Schichtplan auseinander. Gelbe, blaue, rote und weiße Karos sind in einen Kalender eingetragen. „Bei uns teilen sich drei Leute einen Arbeitsplatz. Sie arbeiten – wenn man Ausgleichstage mit einberechnet – 34,6 Stunden in der Woche. Bezahlt bekommen sie aber volle 36 Stunden“. Es sei ein intelligent ausgetüfteltes Modell, bei dem alle Beteiligten gewännen. Die Produktivität der Anlage liegt durch den Neunstundentag und die Samstagsfrühschichten etwa 24 Prozent über einem normalen Betrieb, erläutert Ebneth. In Boomzeiten kann die Kapazität sogar noch einmal gesteigert werden, wenn die Arbeiter nicht alle zur gleichen Zeit ihre Brotzeit und den Urlaub nehmen und – in Absprache mit dem Betriebsrat – auch zweimal am Samstagabend gearbeitet wird.

„Wir wollten auch die regelmäßige Samstagsspätschicht – aber das war damals nicht durchsetzbar“, räumt der Firmensprecher ein. Schließlich habe man das Modell noch in den achtziger Jahren, der Zeit der harten Konfrontation, eingeführt. „Heute spricht doch kein Mensch mehr von den Arbeitszeiten. Jetzt geht es doch um die Arbeitsplatzsicherung,“ meint Ebneth. Den Warnstreik im Werk kürzlich belächelt er denn auch wie einen Kleinkinderstreich: „Das war doch ganz überflüssig. Wir haben doch die strittigen Punkte schon längst in einer Betriebsvereinbarung abgesichert.“

Im Vergleich zu den anderen Automobilfirmen in Deutschland geht es BMW denn auch glänzend, und von Angst um den eigenen Arbeitsplatz ist nichts zu spüren. 25,3 Milliarden Mark setzte der Edelwagenhersteller 1993 um und investierte immerhin 2,2 Milliarden Mark in neue Modelle und Maschinen. Erst vor wenigen Wochen wurde bekannt, daß BMW den britischen Rover-Konzern für zwei Milliarden Mark übernehmen will.

Etwa einmal pro Minute bewegt sich der Fußboden. Die Schiene, auf der ein Autounterteil steht, schiebt sich um eine gute Wagenlänge weiter vor. „Irgendwann in den nächsten zwei Monaten kommt meiner hier vorbei“, meint ein junger Arbeiter mit stolzem Lächeln. Zwei Schrauben muß er festziehen und ein kleines Metallteil unterhalb des Auspuffrohrs einhängen, bis das Band das nächste Mal vorzieht. „Ich interessiere mich für Autos, seit ich ein Junge war“, sagt der gelernte Bäcker – und ein BMW war schon immer sein Traum. Bisher aber konnte er sich keinen leisten, schließlich hat er eine Frau und zwei Kinder zu versorgen. Aber jetzt, jetzt bald ist es endlich soweit. Darum ist er ganz persönlich auch dagegen, daß im Regensburger Werk noch einmal gestreikt wird. Schon bisher hat sich die Lieferzeit für seinen Wagen um zwei Monate nach hinten verschoben.

Seine Kollegin Gabi Schmid, die im Betriebsratsvorzimmer sitzt, ist bereits stolze Besitzerin eines schwarzen Coupés. „Ich identifiziere mich mit dem Auto. Es ist so sportlich, und meine Eltern hatten auch schon einen“, schwärmt sie. Gleich bei den ersten Stellenausschreibungen habe sie sich deshalb bei BMW-Regensburg beworben, und in der zweiten Runde war sie dann auch dabei. Über ihrem Schreibtisch baumelt ein Herz mit dem blau-weißen Propellerzeichen. Genau wie für den Monteur ist es für Gabi Schmid undenkbar, daß das Produkt ihrer Firma vielleicht nicht mehr zeitgemäß sein könnte und womöglich schon zur Altindustrie gehört. „Ich bin felsenfest davon überzeugt, daß das Automobil immer eine Daseinsberechtigung haben wird“, stimmt ihnen der Betriebsratsvorsitzende Niklas zu. „Wir arbeiten an Konzepten, damit der Verkehr auch in Zukunft funktioniert – Verkehrsleitsysteme und die blaue Zone in Münchens Innenstadt zum Beispiel“, sekundiert Pressesprecher Klaus Zwingenberger aus der Konzernzentrale. „Aber solange es Leute gibt, die ein großes Auto haben wollen, so lange bedienen wir sie auch. Wir als Hersteller sind schließlich kein Politbüro.“

In einem kleinen Glaspavillon gleich neben dem Kantineneingang des Münchner Stammwerks stehen ein grauer Geländewagen und ein blauer Viertürer aus dem Hause Rover. Drei Männer lugen neugierig ins Innere der Autos, einer blättert in einer Plastikmappe mit Fotos. Zu sehen sind dort Fahrzeuge in englischen Parklandschaften und vor Herrensitzen, neben denen nobel gekleidete Menschen posieren.

„Doch, der Kauf von Rover ist sinnvoll“, meint Manfred Schoch, Vorsitzender des Gesamtbetriebsrats. Wie zur Unterstreichung sind die Wände in seinem Zimmer voll mit Zeichnungen spaciger Zukunftscabriolets dekoriert. „Vielleicht können wir bald große Motoren nach England exportieren, die dort in Roverfahrzeuge eingebaut werden“, hofft er. Schließlich haben viele Modelle der britischen Renommiermarke bisher Honda- Antriebe unter der Kühlerhaube. „Wenn Japan da mal ein bißchen zurückstecken muß, habe ich keine Skrupel“, bekennt der Mittdreißiger und nippt an einer Tasse Tee.

Halb drei Uhr nachmittags – Ende der Frühschicht. Johanna Schoierer packt ihre Sachen und eilt durch die klirrende Kälte zum Parkplatz rechts vom Werkstor. Viertel vor vier wird sie zu Hause sein. „Wir fahren für BMW“ steht auf den knapp dreißig Bussen, die ihre Motoren warmlaufen lassen.

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