Zweiter Arbeitsmarkt: „Was fehlt, sind Taten“

■ Arbeitsamtschef in NRW fordert „massiven Ausbau“ des zweiten Arbeitsmarktes

Gelsenkirchen (taz) – „Geredet worden ist genug, was fehlt, sind die Taten, damit der zweite Arbeitsmarkt in den alten Bundesländern in Größenordnungen vorstoßen kann, die weit über bisherige ABM-Dimensionen hinausgehen.“ Diesen Appell formulierte der Präsident des nordrhein-westfälischen Landesarbeitsamtes, Karl Pröbsting, in der vergangenen Woche im Gelsenkirchener Institut für Arbeit und Technik. Wenn es den gesellschaftlichen Kräften nicht gelinge, diese Wende zu erreichen, sei die lebenslange Arbeitslosigkeit für immer mehr Menschen unabwendbar. Es komme jetzt darauf an, Signale gegen die Hoffnungslosigkeit zu setzen. Die Arbeitslosigkeit werde im nächsten Winter trotz Konjunkturbelebung noch weiter ansteigen.

Die tatsächliche Unterbeschäftigungslücke bezifferte Pröbsting mit Blick auf ein Prognos-Gutachten auf 7 Millionen Arbeitsplätze. Das Schweizer Institut hat in seinem „Deutschland-Report“ trotz eines unterstellten Wirtschaftswachstums von durchschnittlich 2,5 Prozent (West 2 Prozent, Ost 9 Prozent) für Mitte der 90er Jahre eine Arbeitsplatzlücke von 6,7 Millionen prognostiziert. Im Jahr 2000 rechnet Prognos immer noch mit einer Lücke von 5,9 Millionen Arbeitsplätzen. Neben einer anderen Wirtschaftspolitik zur Förderung des ersten Arbeitsmarktes sieht Pröbsting die Zeit reif, jetzt alle denkbaren Instrumente einzusetzen, um mehr Beschäftigung im zweiten Arbeitsmarkt zu schaffen. Dabei müsse klar sein, daß die Löhne im öffentlich geförderten Sektor „nicht das Niveau“ des allgemeinen Arbeitsmarktes erreichen könnten. Neben einer Ausweitung der klassischen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen hält Pröbsting auch in den alten Bundesländern Lohnzuschüsse für Arbeiten in den Bereichen Umwelt, soziale Dienste und Jugendhilfe vom Grundsatz her für „richtig“. Die gibt es nach dem neu geschaffenen Paragraphen 249h Arbeitsförderungsgesetz (AFG) bisher nur in Ostdeutschland.

Die IG Metall hat gegen den umstrittenen 249h AFG, der eine Förderung nur zuläßt, wenn die Entlohnung in den entsprechenden Projekten „angemessen niedriger“ ausfällt als bei vergleichbaren Tätigkeiten auf dem ersten Arbeitsmarkt, Klage beim Bundesverfassungsgericht erhoben. Für die IG Metall ist diese Gesetzesvorschrift ein Eingriff in die Tarifautonomie mit dem Ziel, tarifunterschreitende Entlohnung bei öffentlich geförderter Beschäftigung auf breiter Front durchzusetzen.

Unumstritten ist diese Position innerhalb der Gewerkschaft indes nicht. Es gibt inzwischen zum Beispiel etliche Betriebsräte aus den Stahlunternehmen an der Ruhr, die froh wären, wenn mit Hilfe des 249h AFG von betriebsbedingten Kündigungen bedrohte Stahlkocher zur Umweltsanierung stillgelegter Werke eingesetzt werden könnten. Während bei ABM-Programmen Mittel nur gewährt werden, wenn ein öffentliches Interesse vorliegt und die geförderten Arbeiten ansonsten nicht oder erst später durchgeführt würden (Zusätzlichkeitskriterium), fällt bei dem neuen Instrument 249h diese Beschränkung weg.

Als das geeignetste Förderinstrument für den zweiten Arbeitsmarkt erachten die Gelsenkirchener Wissenschaftler nach wie vor die klassischen ABM-Instrumente – allerdings bei geringerer Entlohnung. Zur Zeit stecken im Westen gut 50.000 und im Osten rund 180.000 Menschen in AB- Maßnahmen. 1986 waren es im Westen noch 115.000 und im Osten lag die Höchstzahl 1992 bei 400.000. Insgesamt 500.000 hält Bosch als Richtzahl „für angemessen“. Was das kosten würde, kann man der Tendenz nach einer Studie entnehmen, die im Auftrag der Berliner Arbeitssenatorin Christine Bergmann erstellt worden ist. Danach entstehen durch eine öffentliche Förderung von je 100.000 Arbeitslosen in Ost- und Westdeutschland nach den ABM-Tarifen des Jahres 1991 öffentliche Ausgaben in Höhe von 7,7 Milliarden Mark pro Jahr (4,5 Mrd. DM in den alten, 3,2 Mrd. DM in den neuen Bundesländern). Diesen Bruttokosten stehen Einsparungen beim Arbeitslosengeld, bei Sozialhilfe und Wohngeld ebenso gegenüber wie zusätzliche Steuereinnahmen und Mehreinnahmen aus Sozialversicherungsbeiträgen. Insgesamt addieren sich die Einsparungen und Mehreinnahmen der Berliner Studie zufolge auf fünf Milliarden Mark. Der tatsächliche finanzielle Mehraufwand liegt also bei nur 2,7 Mrd. DM im Jahr. Walter Jakobs