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Der Schock ließ Demokraten zusammenrücken

■ Interview mit Igor Soschnikow, einem der Vorsitzenden des ersten breiten Bündnisses gegen die Ultrarechten in Rußland, der „Demokratischen Vereinigung“ in St. Petersburg

taz: Herr Soschnikow, ist Ihre Initiative, ein antifaschistisches Bündnis zu gründen, mehr als nur eine plakative Aktion? Verfügen die Organisationen, die bei Ihnen mitmachen, auch über politische Schlagkraft?

Soschnikow: Nach dem Wahldebakel vom Dezember 93 haben sich 25 Parteien und Bewegungen an einen Tisch gesetzt. Wohlgemerkt nur die regionalen Abteilungen der landesweiten Organisationen. Unter ihnen sind die Bewegung „Demokratisches Rußland“, die „Partei Einheit und Eintracht“ (PRES) um Nationalitätenminister Sergej Schachrai und die „Partei der wirtschaftlichen Freiheit“ des Konstantin Borowoi. Insgesamt haben wir ein breites gesellschaftliches Bündnis bilden können. Neben der Gesellschaft „Memorial“ nehmen der Verband der Wissenschaftler, der „Bund der Afghanistankämpfer“, der Schauspielerverband und eine Reihe unabhängiger Gewerkschaften teil. Nach dem guten Abschneiden Wladimir Schirinowskis — viele sprechen von einem Sieg, das entspricht nicht der Wahrheit — haben wir die Sache schnell und ernsthaft in Angriff genommen. Alle waren zutiefst geschockt. Man hat den Demokraten ja zu Recht vorgeworfen, sie hätten die Schlappe durch ihren Gruppenegoismus mitverschuldet. Bei den kommenden Stadtparlamentswahlen in St. Petersburg ist unsere Liste in allen Kreisen vertreten. Fast jede Organisation hat ein oder zwei Repräsentanten.

St. Petersburg war immer Zentrum des militärisch-industriellen Komplexes, die lokalen Kombinatsdirektoren hatten in sozialistischen Zeiten unverhältnismäßig großen Einfluß auf die Politik. Und in Moskau befinden sie sich heute wieder in der Verantwortung. Was machen sie in St. Petersburg?

Unsere Direktoren sind in ihrer politischen Präferenz sehr verschieden. Einige von ihnen kandidierten für die Kommunisten, andere sogar auf der Liste Schirinowskis. Doch eine ganze Reihe ist auch zu uns gekommen. Das sind die erfolgreicheren, die frühzeitig die Produktion umgestellt und ihre Unternehmen in Aktiengesellschaften umgewandelt haben. Übrigens zahlen die heute die höchsten Löhne in St. Petersburg. Direktoren der Ostseewerke und der Werft Rubin, die früher U-Boote produzierte, arbeiten bei uns aktiv mit.

Die demokratischen Kräfte in St. Petersburg legen viel Vernunft und Friedfertigkeit an den Tag. Für russische Verhältnisse eher untypisch ...

Das hat zum einen etwas mit dem hohen Bildungsstand unserer Bevölkerung zu tun. Andererseits spielt die Entfernung zu den Fleischtöpfen in Moskau eine erhebliche Rolle – die Versuchung, dort irgendwie doch noch in den Genuß von Privilegien zu kommen. Bis zum Herbst 93 stellte die Bewegung „Demokratisches Rußland“ die einzig mächtige reformorientierte Organisation in St. Petersburg dar. In Moskau hatte sie dagegen schon zig Brüche und Abspaltungen verkraften müssen. Heute ist das Klima anders. Zu Veranstaltungen der Ultrarechten gehen vielleicht, wenn's hoch kommt, knapp tausend Leute – und das in einer Fünfmillionenstadt! Wir rechnen bei den kommenden Wahlen zum Stadtparlament nicht mit weniger, eher mit mehr Zuspruch für unser Bündnis.

Wie sieht das Verhältnis zur Bürgermeister Sobtschak aus?

Es ist angespannt. Der Bürgermeister will die Legislative darauf beschränken, den Haushalt zu verabschieden. Die Demokraten haben ihn eigentlich nie voll unterstützt. Nur in Extremsituationen wie beim Putsch 1991 oder in Einzelfragen. Er hat sich überhaupt nie um Nähe bemüht. Persönliche Ambitionen überlagern vieles. Der Einbruch seiner demokratischen Bewegung „RDDR“ bei den Wahlen hat ihm einen Schlag versetzt. Er taumelt und weiß nicht, was er machen soll.

Können Sie sich vorstellen, daß St. Petersburg einen „Sonderweg“ geht, wenn die Reformen in Rußland zum Erliegen kommen?

Ich bin gegen jede Form des Separatismus. Rußland muß ein einheitlicher, unteilbarer Staat bleiben. Andererseits kann ich mir gut vorstellen, einen eigenen Weg auf der Grundlage lokaler Programme zu gehen. Unser Land ist ziemlich groß. Schließlich herrscht in der im russischen Staatsverband teilautonomen Republik Tatarstan bis auf den heutigen Tag noch Sozialismus. Es gibt diese Gleichzeitigkeit von Unvereinbarem. Man darf es nicht so eng sehen. Ich bin „Gaidarist“ (Architekt der Wirtschaftsreform; d. Red.). Muß ich noch mehr sagen? Noch glaube ich, daß sich die Krise bewältigen läßt. Aber all die Bemühungen, die anderen GUS-Staaten wieder über Subventionen an Rußland zu binden, lehne ich strikt ab. Ich bin überzeugt, im Laufe von 10, 20 oder auch 30 Jahren wird eine Art Konföderation entstehen. Solschenizyns Entwurf, der Rußland, die Ukraine, Weißrußland und Kasachstan in einem Staat zusammenfaßt, sagt mir durchaus zu.

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