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Erfolgreich lernen ist mehr als Schulerfolg

Serie: Berliner Gören '94 (dritte Folge) / Für eine Rücksicht auf individuelle Bedürfnisse und Fähigkeiten der Kinder und das Erlernen von sozialer Kompetenz gibt es in der Schule heutzutage immer weniger Raum  ■ Von Detlef Berentzen

„Ich bin sechseinhalb Jahr alt und gehe seit anderthalb Jahren mit Karl in die Schule... Der Karl ist in Tertia und Immanuel in Unterquarta, wenn Versetzung ist, komm ich nach Oberquarta. Ich lerne die lateinischen Deklinationen und Karl die Konjugationen.“

Berlin im Jahre 1821. Eine gestochen scharfe Handschrift. Immanuel Hegel schreibt seiner Tante Christine einen Brief. Natürlich kommt den Söhnen des großen Philosophen G.W.F. nur das Beste an Bildung zugute – bei dem Vater! Selbstverständlich besuchen die Hegel-Brüder später auch das bekannte Französische Gymnasium. Kinder anderer Väter (und Mütter) haben dieses Privileg nicht: Die erste kommunale „Armenschule“ eröffnet erst im Jahre 1827 ihre Pforten. In der Landsberger Straße.

Der neuhumanistische Gedanke einer „Bildung für alle“ kann sich kaum gegen Reaktion und Standesbewußtsein durchsetzen, obwohl ein Mann wie Wilhelm von Humboldt schon sehr früh wußte: „Jeder ist offenbar nur dann ein guter Handwerker, Kaufmann, Soldat und Geschäftsmann, wenn er an sich und ohne Hinsicht auf einen besonderen Beruf ein guter anständiger, seinem Stande nach aufgeklärter Mensch ist. Giebt ihm der Schulunterricht, was hierzu erforderlich ist, so erwirbt er die besondere Fähigkeit seines Berufs nachher sehr leicht und behält immer die Fähigkeit, wie im Leben so oft geschiehet, von einem zum anderen überzugehen.“ Es dauerte lange, sehr lange, bis Humboldts Anliegen einer „allgemeinen Menschenbildung“ für alle Kinder wenigstens im Ansatz Wirklichkeit wurde.

Berlin 1994. Es besteht „Schulpflicht“. Die Berliner Gören „aller Stände“ sitzen gemeinsam in der Grundschule. Nicht 40 oder gar 50 in einem Raum, wie noch vor Jahrzehnten. Die Schüler sitzen und balgen auch noch, als die Lehrerin hereinkommt: Kaum gelingt es ihnen, die laufenden Aktivitäten zu unterbrechen. Nein, die Kinder stehen nicht auf, stehen nicht stramm und rufen auch nicht im Chor ihr „Guten Morgen“. Das ist vorbei. Preußischer Drill und bedingungsloser Gehorsam stehen heute nicht mehr auf der Tagesordnung. Und das ist doch wohl gut so. Obwohl manch ein Lehrer oder manch eine Lehrerin sich eine Renaissance des Gehorsams wünschen würde.

Auf den „Grundschultagen“ hört man es ob der Diszplinlosigkeit der Schüler jammern, und in den oberen Etagen der Schulbehörde macht das Wort vom „Mut zur Erziehung“ die Runde. Die in den sechziger Jahren begonnenen schulischen Reformen hätten zu viele Freiheiten gebracht, die Autorität des Lehrers sei futsch, „die Schüler tanzen einem auf der Nase rum...“. Meine Güte, möchte man da antworten, es ist eben Unsinn, anzunehmen, der Lehrerberuf könne eine Autorität per se haben.

Nach dem Ende der in Jahrhunderten ehern gefügten Autorität des Lehrerstandes gilt es jetzt den Restauratoren den Gehorsam zu verweigern. Jenen, deren Vorgänger mit selbstherrlicher Autorität, Strafsystemen und „Nürnberger Trichter“ Untertanen heranzogen, die unter anderem als Kanonenfutter vor Verdun und Stalingrad oder als Folterknechte in Auschwitz und Sachsenhausen funktionierten.

Ihr Vorwurf an die Adresse derer, die sich seit den sechziger Jahren (in der historischen Dimension also erst seit kurzer Zeit) um die demokratische Bildungsreform mühen, ist nichts als absurd. Nein, der Lehrerberuf braucht eine neue Autorität. Eine, die sich aus dem Engagement und dem Interesse für die Kinder herleitet. Ohne sich anzubiedern, aber auch ohne den aktuellen individuellen und gesellschaftlichen Problemen der Kinder auszuweichen.

Elternabend. Grundschule. In den ersten Jahren kommen die Mütter ja noch... und manchmal auch die Väter, um zu hören, was mit den Kindern so läuft. Manche richten (so erlaubt!) eine „Kuschelecke“ ein, andere bauen ein Regal, schleppen Bücher und Spielzeug heran. Alles ist noch neu, und man will schließlich wenigstens zu Beginn der Schulzeit noch Verantwortung übernehmen.

Einige Zeit später aber sitzen die LehrerInnen mit einem (klitze- )kleinen Häuflein Aufrechter da. Kaum gelingt es an diesem Abend, die Klassenelternvertreter zu wählen. „Wollen Sie nicht mal wieder“, fragt die Lehrerin, „einer muß es ja machen. Wir müssen wenigstens zwei Namen ins Protokoll schreiben.“

Man kennt das. Die Eltern geben die Kinder einfach auf. Sie delegieren die daheim und im sozialen Umfeld entstandenen Probleme an die LehrerInnen. Folge: Überlastung und Resignation bei den Lehrkräften. Das wiederum spüren die Kinder. Und die Kinder haben ohnehin Probleme genug. Mit ihrer Motorik beispielsweise. Da sollen die Kurzen nun stillsitzen und zuhören. Nur sagt ihnen ihr Körper etwas ganz anderes: „Bewegung“, schreit der, „so bewege mich doch endlich... tobe, lache, schreie!“ Was schon außerhalb der Schule selten genug möglich ist („Das Toben und Lärmen der Kinder auf dem Hof ist sofort zu unterbinden“; Schreiben einer Berliner Hausverwaltung im Jahre 1993), wird in der Schule fast unmöglich. Wären da nicht die Pausen oder (so er nicht ausfällt) der Sportunterricht. Da explodiert der Drang nach Bewegung und Äußerung. Nur all dies reicht nicht, kann nicht reichen für Kinder, die von ihrer erwachsenen Umgebung ruhiggestellt werden.

Marion fängt also an zu zappeln. „Zappelphilipp-Syndrom“ nennen das die Experten. Die aufgestaute Nervosität fährt dem Kind in die Glieder. Erst recht, als Marion ihr Diktat zurückbekommt. Mit einer Zensur darunter. Einer Ziffer. Gut, im ersten Schuljahr gab es das noch nicht (statt dessen wurde schriftlich-ausführlich beurteilt), und im zweiten Jahr beschlossen die Eltern noch gemeinsam, die Aussetzung der Zensierung zu beantragen, aber nun ist das vorbei. Und jetzt: Die Zensur ist mies. Marion bekommt ein leichtes Stechen im Bauch und gibt (ohne es zu wissen) den Schulforschern recht: Eine nicht geringe Anzahl von SchülerInnen reagiert psychosomatisch auf Schulstreß.

Aber: Das Kind braucht gute Noten. Es soll aufs Gymnasium. Dann hat es die besten Chancen. Schon früh fällt die Entscheidung der Eltern, oft bereits in der ersten Klasse – also ran und Vater und Mutter nicht enttäuschen. Eile ist geboten, denn vielleicht braucht Marion ja bereits nach der vierten Klasse die Gymnasialempfehlung. Die Altvorderen, die Restauratoren rüsten schließlich auf: von wegen sechs Klassen gemeinsame Grundschule. Schluß damit, gibt es in Westdeutschland schließlich auch nicht! Die Kinder „sortieren“, so früh wie möglich, heißt die Devise der Berliner Christdemokraten. Spätestens mit der Länderfusion Berlin-Brandenburg muß die gemeinsame Unterrichtung aller „Stände“ nach vier Jahren beendet sein.

Das wird im Osten der Stadt einen Jubel (!) geben. Dort hat man (folgt man der Logik des Vorhabens) nur darauf gewartet, die Kinder nach Leistung zu sortieren und der (ohnehin nie existierenden) Chancengleichheit endgültig den Garaus zu machen. Endlich, nach all den Jahren sozialistischer Auslese die Züchtung von Eliten! Nun gilt wieder das, was die kleine Katrin dereinst in Ost-Berlin, der Hauptstadt der ehemaligen DDR, in ihrem Schulheft notierte: „Ohne Schule könnte man nie etwas Richtiges werden und nie lernen, was Lenin gesagt hat: ,Lernen, lernen und nochmals lernen‘, damit der Staat sich gut entwickelt.“ Pauken ist angesagt. Wettbewerb. „Schulisches Lernen ist zu einer selbstgenügsamen, erzwungenen, nur auf den Schulerfolg als solchen bezogenen Leistung geworden“, dröhnt der Berliner Pädagoge Heinrich Kupffer. Kein Raum für die eigenen, kindlichen Bedürfnisse, vielmehr gilt es, den Lehrplan zu erfüllen, sofern die individuellen und sozialen Möglichkeiten des Kindes dies zulassen. Wer mag da noch von Förderung, vom Auftrag der Schule reden, „allen Kindern“ gleiche Bildungsmöglichkeiten einzuräumen. Allenfalls Wilhelm von Humboldt und seine späteren reformpädagogischen Genossen.

Dennoch: kein Grund zur Resignation. Es wird der Berliner Schulpolitik nicht gelingen, die Entwicklung einfach zurückzudrehen. Auch nicht mit dem Argument vom „Wirtschaftsstandort Deutschland“. Man mag es versuchen, doch langfristig haben die Restauratoren, die Elitenzüchter keine Chancen. Sie denken zu kurz, wenn sie die Qualität des Lernens auf seine Quantität reduzieren, wenn sie die Mehrheit von fördernden Bildungsgängen ausschließen wollen, wenn sie keine Rücksicht auf die kreativen Bedürfnisse und Fähigkeiten des einzelnen Kindes und auch nicht auf die Entwicklung seiner sozialen Kompetenz nehmen. Der Gedanke wird sich durchsetzen, daß das, was aus dieser Stadt, aus dieser Republik wird, entscheidend von der lebendigen Bildung ihrer Kinder abhängt. Das mag in der derzeitigen Umbruchphase nicht die nötige Beachtung finden, bleibt aber nichtsdestotrotz wahr.

Der Autor beschäftigt sich seit vielen Jahren mit den Problemen der Kindheit, war Herausgeber der Zeitschrift „enfant T.“ und arbeitet für Fachzeitschriften und den Rundfunk.

Die vierte Folge erscheint am Montag nächster Woche.

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