Vision ja, aber vernünftig soll sie sein

Auf dem Wahlparteitag der Bündnisgrünen in Mannheim entfaltete sich bei den innenpolitischen Themen Einwanderungs- gesetz und Lauschangriff das Chaospotential grüner Parteitage genauso wenig wie bei der heiklen Nato-Debatte.

Der Beobachter aus dem Ollenhauer-Haus kramt in der Vergangenheit. In welchem Jahr hat die SPD ihren Zehnjahresbeschluß gefaßt? War doch 1986, Atomausstieg folglich 1996. Siehe da: Rein rechnerisch sind die Beschlußlagen von Rot und Grün voll kompatibel. Wozu also die Aufregung!

Tatsächlich hält sich am Samstag, dem zweiten Tag des grünen Parteitags im Mannheimer Rosengarten, keiner der Akteure noch an der Realo-Niederlage beim Atomausstieg auf. Viele Stunden haben sich die Delegierten am Vorabend redlich mit der Wirtschaft abgeplagt und das riesige Thema beinahe abgearbeitet. Nun steht die Innenpolitik auf dem Programm. Daß die Götter auch vor den Erfolg eines Machtwechsels in Bonn den Schweiß gestellt haben, gibt der gedruckte Ablaufplan zu diesem Punkt besonders eindrucksvoll wieder. Nach dem fettgedruckten (und überflüssigen) Appell „Beginn 9.00 pünktlich!!!“ sollen sich die 700 Delegierten wie folgt durch den Vormittag wühlen: Antrag auf einen zusätzlichen Programmteil „Schwule“

Begründung – Gegenrede je 5 Minuten; Abstimmung

Vorstellung des Programmteils IV (D): Marianne Birthler

Für die Globalalternative: Christian Ströbele

Allg. Aussprache, Redezeitbegrenzung 5 Minuten.

Hochempfindliches Thema streitbar abgehandelt

Ersparen wir uns die restlichen Zeilen. Fast genauso läuft es jedenfalls. Wieder wird das hochempfindliche Thema Migration streitbar abgehandelt, zwischen den Polen „offene Grenzen“ und „Einwanderungsgesetz“.

Doch das spezielle Chaospotential grüner Parteitage entfaltet sich bei dieser Kontroverse sowenig wie bei der heiklen Nato-Debatte, die am Nachmittag stattfindet. Mit Claudia Roth, Europa-Spitzenkandidatin, Roland Appel, der bei der Listenaufstellung in Nordrhein-Westfalen überraschend gescheitert ist, und Christian Ströbele, vor dessen Parteitagsreden jeder Realo einen Heidenrespekt hat, gehen die bewährten linken Rhetoriker ans Podium. Daß in der Debatte kaum neue Argumente auftauchen, ist unvermeidlich. Vor weniger als zwei Jahren, in Berlin, hat man sich die Köpfe darüber heiß geredet.

Ziemlich verwundert mußten Kompromißsucher wie Jürgen Trittin damals zur Kenntnis nehmen, daß die Delegierten bei einem schlichten Ja zu offenen Grenzen bleiben wollten. Auch in Mannheim schlägt das Herz immer dann höher, wenn vorne einer ruft: „Alle sind nach rechts gerutscht. Nein, wir nicht, wir nicht.“ – „Die eigentlichen Brandstifter sitzen in Bonn“, wiederholt eine Bundestagskandidatin aus Nordrhein- Westfalen ein Motto aus dem letzten Jahr.

Sie ist auf diesem Parteitag nicht die erste und nicht die letzte, die mit der Frage „Wer, wenn nicht wir?“ treffsicher auf die Gemütslage zielt. „Mit uns zusammen wird nicht gelauscht, nicht klein und groß“, das finden alle. Neu ist in dieser Debatte allein der Auftritt einer Altbekannten: Christa Nickels, die die Liste in Nordrhein- Westfalen anführt, legt sich energisch und im Schnell-Stakkato mit Ströbele an. Als am Ende gezählt wird, hat der „Antrag Saathoff“ die Mehrheit. Mit 301 gegen 188 befürwortet dieser Parteitag den Verliererkompromiß von Berlin. Ja zum Einwanderungsgesetz, aber keine Quoten. Die Delegierten wollen vernünftig sein.

Der Krach über die Außenpolitik hat eine Vorgeschichte. Nicht nur die des Bonner Bosnien-Parteitags, die den Pazifismus als grünen Grundkonsens gegen eine verschwindende Minderheit festzurrte. „Heute trete ich als Watschenfrau auf“, stellte die Hamburger Reala Krista Sager sich ihrem Publikum vor, als sie den Alternativantrag zur Außenpolitik begründete. Soll die Nato als „dessen sicherheitspolitischer Arm in den KSZE-Prozeß überführt“ werden? Wie energisch sie sich dafür ins Zeug legen wollten, war in den Tagen zuvor unter den Realos strittig diskutiert worden. Joschka Fischer konnte dem Gedanken wenig abgewinnen, das Schaufenster Mannheim für eine Nato-Kontroverse zu nutzen.

Doch Bundessprecher Ludger Volmer hatte mit einer scharfen Attacke die Kontroverse fast provoziert. Einen Tag vor dem Parteitag hatte er via taz kräftige „Watschen“ (Sager) ausgeteilt, die unmißverständlich auf den „heimlichen Parteivorsitzenden“ Fischer und frontal auf den Nato-Antrag zielten. Sager: „Was hat Ludger denn eigentlich gewollt? Er sagt: Wir sollen die großen Visionen nicht opfern.“ Doch „auf gut deutsch“ wolle er im Fall der Regierungsverhandlungen die „Visionen“ einfach tiefer hängen. „Wir dagegen zeigen einen Zwischenschritt auf... Er will die Grünen abspeisen mit Visionen und überläßt dann den Rest der SPD.“ Volmer beriefe sich in der taz auf die Partei, so wie sie eben sei. Ob die denn „eine griesgrämige Erbtante sei, der man nicht sagen darf, was man denkt, weil man dann enterbt wird“, fragte Sager zur Begeisterung der Delegierten.

Ein gutes Drittel der Parteitags- Delegierten folgte am Ende dem Alternativantrag. Das Echo des Parteitags auf Bundessprecher Ludger Volmer („Ich beginne mit einer Entschuldigung“) hatte die Mehrheiten deutlich gezeigt. Was es denn heiße, die Nato zu überführen. „Überführt heißt nicht aufgelöst. Hier geht es um eine Richtungsentscheidung. Ihr müßt euch entscheiden, in welcher Partei ihr sein wollt.“

In Mannheim erregte das kleine Waterloo der Linken beim Thema Migration wenige Stunden später kaum mehr ein Gemüt. Und nach der Kontroverse um die Nato fühlt sich die Parteitagsmehrheit nicht im Triumph und die unterlegene Minderheit nicht wie ein geprügelter Hund. Alle waren zufrieden: Es läuft gut. Tissy Bruns, Mannheim

Siehe auch Kommentar Seite 10