Das „kuckucksei“ und der Düsseldorfer Zensor

■ Schwerter Knastzeitung wird seit Monaten regelmäßig entschärft

Schwerte (taz) – Kundige Archivare schätzen die Schwerter Knastzeitung kuckucksei ganz besonders. Sie sei „objektiv im obersten Niveaubereich“ der Gefangenenzeitungen anzusiedeln, meint etwa Bernd Schaaf von der Saarbrücker „Arbeitsgemeinschaft Strafvollzug“. Seit ein paar Monaten kommt das vielgelobte Blatt meist verspätet bei den rund 3.000 Beziehern an. Verantwortlich dafür sind die beamteten Zensoren, die dem Blatt mit immer neuen Eingriffen schwer zusetzen. Im Sommer letzten Jahres blieben gleich 22 Seiten von jeglicher Druckerschwärze verschont. Weil die Zensoren aber die Streichung des Inhaltsverzeichnisses vergaßen, erfuhren die LeserInnen zumindest, was ihnen entging. In der Februar-Ausgabe kommt das Blatt scheinbar unzensiert daher. Keine weißen Blätter, kein verräterisches Inhaltsverzeichnis. Tatsächlich haben die Zensoren von der Schwerter Anstaltsleitung und dem westfälischen Justizvollzugsamt aber wieder zugelangt. Ganze zwanzig Seiten fielen diesmal der Schere zum Opfer. Die Leser erfahren davon nichts, weil selbst der redaktionelle Hinweis auf die Zensur im Editorial zensiert wurde.

Verantwortlich für diesen Kurs gegen das Schwerter Knastblatt ist nach Informationen aus dem Justizapparat der Düsseldorfer Justizminister Rolf Krumsiek höchstpersönlich. Der Ärger begann im März 1993 mit der Veröffentlichung eines von 200 Gefangenen unterzeichneten offenen Briefes an Ministerpräsident Johannes Rau im kuckucksei. Darin forderten die Gefangenen Rau auf, seinen Justizminister zu entlassen, weil der nach der Geiselnahme im Werler Knast durch eine Verschärfung der Vollzugsbedingungen eine „Vernichtung von Resozialisierungsansätzen“ betreibe und damit die „Gewalt in die Strafanstalten“ trage. Dem presserechtlich für die Zeitung verantwortlichen Anstaltsleiter Friedhelm von Meißner wurde kurz nach der Veröffentlichung die Zuständigkeit für das Blatt entzogen, und wenig später wurde Meißner dann in den Bochumer Knast zwangsversetzt. Düsseldorfs Justizminister hielt dem Anstaltsleiter plötzlich eine „lange Liste“ von Sicherheitsmängeln vor. Krumsiek wörtlich: „Wir haben Glück gehabt, daß keiner abgehauen ist.“ Die Fakten sprechen indes eine andere Sprache. Als von Meißner die Leitung der Anstalt übernahm, lag die sogenannte „Urlaubsversagerquote“ bei 3,5 Prozent. Bis zu seiner Zwangsversetzung sank die Quote, also die Zahl derer, die einen Hafturlaub zur Flucht nutzten, auf 1,08 Prozent. Ein Spitzenwert im Vergleich zu anderen NRW- Haftanstalten. Zwei Gefangene türmten während der dreijährigen Amtszeit Meißners über die Mauer. Der erste mit Unterstützung eines korrupten Beamten, der zweite schaffte die Flucht wegen grober individueller Nachlässigkeit einer Aufsichtsperson. In keinem Fall wurde dem Anstaltsleiter die Flucht angelastet. Prügel aus Düsseldorf gab es erst, so ein Justizmitarbeiter, nach der „Majestätsbeleidigung“ durch den offenen Brief. In einer von den Grünen beantragten Landtagsdebatte begründete Krumsiek die Maßregelung Meißners so: Dem sei die Verantwortung für die Knastzeitung entzogen worden, „weil hier haltlose und maßlose polemische Kritik geübt worden ist“. Belege für Beleidigungen oder gar strafrechtlich relevante Tatbestände bietet die Durchsicht von kuckucksei hingegen nicht. Der Münsteraner Professor Helmut Koch, der an seinem Institut für Deutsche Sprache und Literatur auch die Dokumentationsstelle Gefangenenliteratur unterhält, hat die Zensurmaßnahmen zusammen mit anderen Hochschullehrern und Richtern scharf kritisiert. Die Zensur sei mit der „konzeptionellen Weiterentwicklung hin zu einem modernen Strafvollzug nicht in Einklang zu bringen“, schrieb er an Krumsiek. Der Beirat der Schwerter JVA sprach von einer „Entmündigung“ der Häftlinge. Durch die Zensur und die Versetzung des Anstaltsleiters sei bis dahin „nicht bekannte Willkür über die Strafanstalt“ hereingebrochen. Inzwischen hat die Strafvollzugsbeauftragte der NRW-Grünen, Barbara Kodura- Siepmann, einige der im letzten Jahr rausgefallenen Artikel im Original veröffentlicht. Ein Vergleich beider Fassungen verdeutlicht, was inzwischen in NRW alles unter „maßlose polemische Kritik“ (Krumsiek) subsumiert wird. Geschützt werden mußte das Publikum nach Ansicht der Zensoren beispielsweise vor hochexplosiven Formulierungen wie: „Betrachtet man die Entwicklung im NRW- Strafvollzug, könnte jedoch leicht der Eindruck entstehen, daß Gefängnisse in NRW nur die Funktion haben zu bestrafen, zu vergelten und abzuschrecken. Ob das mit ,sozialem Engagement‘, welches die SPD für sich so gerne in Anspruch nimmt, zu vereinbaren ist, sollten sich die Verantwortlichen im Justizministerium einmal fragen. Schließlich ist NRW ein SPD- regiertes Land.“ Walter Jakobs