: Etappenweise Steigerung
Nach viertägigem Brüsseler Verhandlungsmarathon durfte die Europäische Union gestern zunächst Schweden als neues Mitglied willkommen heißen. Für Norwegen und Österreich sind die Beitrittsbedingungen ungleich schwerer zu erfüllen.
Kurz nach zwölf Uhr mittags stießen die zwölf Außenminister mit der schwedischen Delegation auf den Abschluß der Verhandlungen an, mit Selters statt Champagner, denn es ging ja noch weiter. Als nächstes stand Finnland auf der Tagesordnung, danach Österreich.
Nach mehr als viertägiger Marathonsitzung, davon die letzten 26 Stunden nonstop, war die Erleichterung über den ersten konkreten Erfolg zu spüren. Immer wieder waren während der Nacht Meldungen aus den Sitzungszimmern gedrungen, nach denen der Durchbruch unmittelbar bevorstünde.
Die Nachrichtenlage war vor allem deshalb so widersprüchlich, weil auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig verhandelt wurde. Während die griechische Ratspräsidentschaft mit den Delegationen der Beitrittskandidaten verhandelte, kamen in einem anderen Raum immer wieder die zwölf Außenminister zusammen, um abzustimmen, ob sie mittragen wollten, was die Griechen gerade für die EU aushandelten. Dazu kamen noch Parallelverhandlungen der Deutschen und der Belgier mit den Beitrittsländern, weil die beiden Länder in der sogenannten Troika sind, die die EU in diesem halben Jahr außenpolitisch vertritt. Offiziell, um die Griechen zu entlasten. Inoffiziell – soweit von verzweifelten Menschen mit zusammengepreßten Zähnen etwas zu verstehen ist –, weil einige griechische Minister nicht immer wußten, worum es eigentlich gerade ging.
Treibende Kraft der Verhandlungen, so eine Mitarbeiterin des französischen Außenministers, sei die deutsche Delegation gewesen. „Wir hätten schon längst abgebrochen“, stöhnte sie, „und hätten den Kandidaten gesagt, sie sollen die Bedingungen akzeptieren oder nach Hause fahren.“ Aber Bundesaußenminister Kinkel hatte von Anfang an klargemacht, daß Bonn an einem Beitritt aller vier Kandidaten interessiert ist, um „die Europäische Union als Stabilitätsanker in Europa“ auszubauen, wie Kinkel formuliert.
Die deutsche Verhandlungslinie hat die Gespräche möglicherweise nicht gerade leichter gemacht. Erst als einige Länder um Frankreich und Holland aufgeben und die Gespräche komplett auf nächste Woche vertagen wollten, wurde die Taktik leicht abgeändert. Auch auf die Gefahr, mit den bereits entnervt ins Hotel zurückgekehrten Norwegern und den im Transit festgefahrenen Österreichern später getrennt verhandeln zu müssen, wurde im Ministerkreis über das schwedische Paket abgestimmt – und zugestimmt.
Finnland und Schweden hatten ohnehin die geringsten Probleme mit den Beitrittsbedingungen. Die Förderung der arktischen Landwirtschaft war bereits im Vorfeld weitestgehend geklärt worden, ebenso die Finanzhilfen für dünn besiedelte Gebiete mit weniger als acht Einwohnern pro Quadratkilometer. Dieses Instrument der Förderung der sogenannten „Ziel-6- Gebiete“ wurde entwickelt, um den skandinavischen Ländern Regionalhilfen für strukturschwache Gebiete zukommen zu lassen, die nach dem bisherigen EU-Instrumentarium nicht möglich gewesen wären. Denn Finnland, Schweden und Norwegen wären bei allen bisherigen pauschalen Förderinstrumenten leer ausgegangen, weil dort das Einkommensniveau selbst in den ärmsten Gebieten immer noch mehr als 75 Prozent des EU- Durchschnittes beträgt.
Bis auf Finnland sind voraussichtlich alle Kandidaten Nettozahler. Am meisten wird Schweden mit rund 1,5 Milliarden Mark netto einzahlen. Die Forderung Schwedens, den Beitrag anfangs geringer anzusetzen und dann langsam zu steigern, wurde von der EU zurückgewiesen. Ebenso das schwedische Verlangen nach fünf statt nur vier Stimmen im Ministerrat. Im Gegenzug aber wurde Schweden ein um 120 Millionen Mark höherer Zuschuß für die Unterstützung der Landwirtschaft zugestanden.
Durch die Verhandlungsergebnisse mit Schweden und Finnland kam auch Österreich unter Druck, seine Position beim Transitabkommen zu überdenken. Gesucht wurde ein Kompromiß, der sowohl die hochgeschaukelten Emotionen im Brennertal als auch das Interesse der EU berücksichtigt, vor den Spediteuren in Holland, Deutschland und Italien nicht mit leeren Händen dazustehen.
Selbst Norwegen kehrte gestern nachmittag wieder an den Verhandlungstisch zurück, nachdem die Delegation am Vormittag bereits ins Hotel abgewandert war und sich auf ein Weiterverhandeln in der kommenden Woche eingestellt hatte. Mit telefonischem Einverständnis der norwegischen Regierungschefin Gro Harlem Brundtland hatten die Norweger das EU-Angebot als unannehmbar zurückgewiesen. Nach Ansicht von norwegischen Journalisten will Oslo der EU lieber später beitreten, als mit einem schlechten Verhandlungsergebnis nochmal ein ablehnendes Referendum zu diesem Thema zu riskieren. Die Chance für eine Zustimmung der Bevölkerung gilt als höher, wenn die Nachbarn Schweden und Finnland ihren Beitrittsprozeß einschließlich der obligatorischen Volksabstimmungen erfolgreich über die Bühne gebracht haben.
Wie beim letzten gescheiterten Beitrittsversuch Norwegens hakt es auch diesmal an den Fischfangrechten. Insgesamt geht es um Fanglizenzen für 18.000 Tonnen Fisch, die Norwegen der EU nicht zugestehen will. Ähnlich der österreichischen Position beim Transit gelten die Fischrechte in Norwegen inzwischen als Prüfstein, ob sich das kleine Norwegen gegen die große EU durchsetzen kann.
Bis spätestens zum 10. März müssen die Abkommen zwischen Ministerrat und Beitrittskandidaten beim Europaparlament in Straßburg auf dem Tisch liegen, wenn der Beitrittstermin 1. Januar 1995 eingehalten werden soll. Für den Sommer sind dann die Volksabstimmungen vorgesehen. Lediglich die finnische Regierung kann wegen der wirtschaftlichen Schwierigkeiten und wegen des Sicherheitsbedürfnisses mit breiter Zustimmung rechnen, die anderen stehen vor einer weiteren Zitterpartie. Alois Berger, Brüssel
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