■ Die USA und Rußland finden ihre alten Rollen wieder: Die Rückkehr der Großmächte
Kein Zweifel: Die Großmächte sind wieder unter uns. Zuerst das Ultimatum der Nato an die serbischen Belagerer Sarajevos, das in der Kombination mit Moskauer Druck Erfolg zeitigte; dann der umstandslose Abschuß vier serbischer Kampfflugzeuge über Bosnien durch die Nato, schließlich das von Washington vermittelte bosnisch-kroatische Konföderationsabkommen, auf das nun wieder entsprechende russische Bemühungen gegenüber den Serben folgen – der Krieg in Bosnien ist zur Chefsache avanciert; Handlungswille ersetzt lähmendes Zuschauen.
Russen und Amerikaner stehen nicht mehr abseits, sondern mittendrin. Die handelnden Politiker heißen nicht mehr David Owen oder Thorvald Stoltenberg, sondern Bill Clinton und Boris Jelzin. Das russisch-amerikanische Zusammenspiel läßt auf eigenartige Weise die Welt von 1945 wiederauferstehen, da ja vor Ort Frankreich und Großbritannien mit ihren Soldaten die konkrete Ausgestaltung der Friedenssicherung bestimmen. Alles, was jetzt in diesem Krieg passiert, spielt sich in diesem neuen und gleichzeitig wohlvertrauten Viermächtekreis ab.
Nun wird offen ausgesprochen, was bisher nur hinter vorgehaltener Hand vermutet werden durfte: Die Kriegsparteien haben mächtige Verbündete, und diese Verbündeten haben Interessen. Die Frage, was denn diese Interessen seien, geht am Kern der Sache vorbei. Interessen der Mächte sind nichts weiter als nationale Interessen; es sind nur im selteneren Falle Verpflichtungen, und Prinzipien sind es schon gar nicht. Es wäre verfehlt, in der Rückkehr der Großmächte eine Rückkehr der Ideologien oder gar der verflossenen bipolaren Welt zu sehen. Es geht um Rang, Geltung, Glaubwürdigkeit. „1989 ging keine Welt zu Ende“, schrieb vor kurzem der schottische Publizist Neal Ascherson. „Was zwischen 1989 und 1992 passierte, war der Fall eines Reiches. Aber Ordnung verschwand nicht.“ Nach einigen Jahren Orientierungslosigkeit wachsen die alten Mächte wieder neu in ihre alten Rollen hinein. Und diese Rollen sind älter als die vergänglichen Weltanschauungen, in die sie sich einige Jahrzehnte lang gekleidet hatten.
Zwar sind die Ausgangslagen der einzelnen Länder sehr unterschiedlich – Rußland, ein imperiales Residuum ohne solide Ökonomie und in wesentlichen Bereichen Pflegekind des Westens, ist nicht mit der globalen Wirtschaftsmacht USA zu vergleichen. Aber in der Machtpolitik zählt nicht der Ausgangspunkt, sondern das angestrebte Ziel, weshalb ja auch Deutschland und Japan nicht zu den Großmächten zu zählen sind. Natürlich sieht auch die Interessenverfolgung jedes Landes unterschiedlich aus – Amerika, Rußland, Frankreich, Großbritannien und auf eine eigene Weise auch China pochen jeweils auf als einzigartig dargestellte Werte. Aber in der Substanz unterscheiden sich diese Werte nicht. „Right or wrong – my country“, sagten die Briten dazu im 19. Jahrhundert: Ob Franzosen die Gatt-Abkommen verurteilen, Russen den Mafia-Kapitalismus oder Chinesen den westlichen Menschenrechtsbegriff – es geht nicht um die Durchsetzung eines Zivilisationsmodells gegen ein anderes, sondern um reine Selbstbehauptung. Man will nicht Revolution oder Demokratie exportieren, sondern sich keinem fremden Diktat beugen, bestenfalls noch den eigenen Einfluß mehren. Weder Russen noch Amerikaner wollen in Bosnien oder sonstwo ein Kulturmodell oder ein Weltsystem internationalisieren. Sie äußern in ihren Handlungen ganz einfach das allen Großmächten innewohnende Streben nach möglichst großer Macht. – Wo Inhalte verschwinden, werden auch keine mehr durchgesetzt. Wen kümmert es 1994 noch, ob Somalia wieder seine Staatlichkeit frei von Hunger erringt oder Haiti die Demokratie? Diese einstigen Brennpunkte humanitär geprägter Weltpolitik spielen heute keine Rolle mehr. Statt dessen geht es um Gegensätze elementarer Art, um Durchsetzungsvermögen – zum Beispiel, ob Nordkorea internationalen Inspektoren weiterhin den Zugang zu seinen Atomanlagen verweigern kann oder nicht; oder ob Rußland in seinem als Einflußsphäre reklamierten „nahen Ausland“ unkontrolliert intervenieren darf oder nicht. Bei letzterem geht es ja um nichts weiter als um den Schutz russischer Minderheiten und nicht etwa um Minderheitenrechte per se. Auch in bezug auf Bosnien spricht ja kein verantwortlicher Politiker je davon, den Willen der betroffenen Bevölkerung zu respektieren. Statt dessen kommen Umrisse von Jalta zum Vorschein, wenn hinter der ethnischen Aufteilung Bosniens die Spaltung des Balkans in eine Ost- und eine Westsphäre durchschimmert.
Vorbei ist damit auch die Zeit, wo die UNO sich als Weltregierung in spe präsentieren durfte. Noch 1990, vor dem Golfkrieg um Kuwait, jagte eine UNO-Resolution die andere. Heute bewirkt der Ruf nach dem Sicherheitsrat das Gegenteil – nämlich Blockade. Um Nato-Luftangriffe auf serbische Stellungen zu verhindern, wollte Moskau eine Zeitlang den Sicherheitsrat einschalten, und die Debatte um das Massaker von Hebron, als 50 Palästinenser starben, hat den Rat lahmgelegt. Die UNO wird wieder das, was sie immer war: Ein Forum, in dem Interessenkonflikte offen ausgetragen werden können, das aber letztlich nicht über politische Handlungsmöglichkeiten verfügt.
Und es ist auch kein Zufall, sondern Bestätigung einer kurzzeitig vergessenen Realität, daß im neuen Konzert der Großmächte Deutschland kaum vorkommt. Über deutsche Interessen spricht man nicht, außer im wirtschaftlichen Bereich. Deutsche Außenpolitik bestimmt ihre Rolle nicht selbst, sondern sie übernimmt die Aufgaben, die andere ihr überlassen. Die USA scheinen Rußland als ihr weltpolitisches Gegenüber zu sehen sowie Großbritannien und Frankreich als Handelnde einer im Entstehen begriffenen westeuropäischen Politik. Für Deutschland bleibt die unliebsame Aufgabe, sich um die Zukunft der restlichen Teile Europas zu sorgen, was am leichtesten durch Nähe zu Moskau zu leisten ist. Bundeskanzler Kohl weist auf die russische „Angst vor Isolation“ hin und fordert: „Die Nato muß diese Befürchtungen ernst nehmen.“ Außenminister Kinkel lobt das segensreiche Wirken Moskaus in Bosnien und sorgt sich in einem gemeinsamen Zeitungsartikel mit seinem russischen Amtskollegen Andrej Kosyrew um die Fortsetzung der Reformen in Osteuropa.
In der Amtssprache heißt das „Schaffung einer europäischen Sicherheitsarchitektur“. Das mag dem Frieden dienen. Es darf aber nicht das Ende aller Dinge darstellen. Denn der Wunsch nach möglichst umfassenden, von Wahington und Moskau garantierten Institutionen, um Zufälle – also stabilitätsgefährdende Ausfälle unbefugter Emporkömmlinge auf dem Balkan und anderswo – zu minimieren, ist ein rein formales Ziel, gefangen in der Sprache jener alten Machtpolitik, die schon nach dem Dreißigjährigen Krieg im 17. Jahrhundert gepflegt wurde und auch heute nicht gehaltvoller ist. Dominic Johnson
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