piwik no script img

Weibmänner und Mannweiber

Jenseits des Geschlechterdualismus: Der Indianer Wesley Thomas ist von seinem Stamm als Frau erzogen worden / Die Navajos haben vier Geschlechterrollen im Angebot  ■  Ein Portrait von Bascha Mika

Ist nicht Mann, doch keineswegs Frau. Nicht Frau und doch auch nicht Mann. Was also dann? Eine Hermaphroditin? Ein Transsexueller? Ein androgynes Wesen? Da sitzt ein Mensch auf dem Zaun – zwischen den Geschlechtern und gleichzeitig oben drüber. Sieht einerseits Männer, andererseits Frauen. Was wäre, wenn alles anfing zu tanzen, sich verdrehte, vermischte, löste und neu vereinte? Der Mensch ist sein Leib und hat seinen Körper. Ist das klar und vielleicht schon alles? Oder will hier wer aus seinem Körper emigrieren? Erst zwei, dann drei, dann vier... Geschlechterrollen im Angebot?

Wesley Thomas zeigt eine runde Schulter, nackt und braun, die andere bedeckt ein buntes Tuch, dickgewebt, fast so fest wie ein Teppich. Das Teppichtuch ist um den Leib geschlungen, fällt bis über die Knie, streift die weißen Hirschledergamaschen, die sich um die Waden kringeln. Die Füße stecken in roten Mokassins. So läuft Thomas nicht immer herum, aber wenn er sich schön machen will, schlüpft er in das traditionelle Outfit der Navajos. Konkreter: der Navajo-Frauen. Nun ist Thomas ein Mann – zumindestens biologisch. Aber nicht für seinen Stamm. Bei den Navajos hat Thomas ein alternatives Geschlecht: Er ist ein „Nadleehé“, ein Weibmann.

„Nadleehé heißt ,gewandelt‘“, erzählt Thomas, „ein richtiger, traditioneller Nadleehé ist in der Navajo-Gesellschaft ein Mensch, der als Mann geboren ist, aber zu hundert Prozent als Frau gilt. Nicht wegen seiner sexuellen Vorlieben, sondern wegen der Arbeit, die er verrichtet.“ Dasselbe gilt umgekehrt für weibliche Nadleehés, die als Mann leben und arbeiten.

Als die Götter der Navajos die erste Welt erschufen, gab es darauf weder Menschen noch Tiere. Die Welt war rot und leer. Da formten die Götter aus einem weißen Maiskolben den Urmann, aus einem gelben die Urfrau. Die beiden waren Geistwesen, die gleichzeitig entstanden, ohne Hierarchie der Geschlechter. Die Urgeister krabbelten von der ersten Welt nach oben in die zweite. Aus der roten kamen sie in die blaue. Dort packte der Urmann Medizinbündel für eine religiöse Zeremonie, die wollte er den Geschlechtern zuordnen. Doch dann kletterte er so hastig in die dritte, die gelbe Welt hinauf, daß er die Bündel durcheinanderwarf. So entstanden neben dem ersten Geschlecht, den Frauen, und dem zweiten, den Männern, auch noch Mischformen: die Mannweiber als drittes und die Weibmänner als viertes Geschlecht. Gemeinsam zogen die Geistwesen in die vierte, weiße Welt, und von dort weiter in die fünfte. In dieser, der bunten Welt, schuf „ásdzaá nadleehé“, die Urmutter, die ersten „diné“, die Navajos. In der bunten Welt leben die Navajos noch heute – mit vier Geschlechtern. Die werden von Wesley Thomas nicht als Frauen, Männer oder alternative Geschlechter bezeichnet, sondern – wie schon im Mythos – mit ihrer Nummer in der Geschlechterreihe.

„Früher“, erinnert er sich und lacht glucksend, „hab' ich mir nie Gedanken über die Geschlechter gemacht. Bis ich dann merkte, daß es woanders nur zwei gibt.“ In einer westlich geprägten Kultur mit ihrem dualen Geschlechtersystem bist du entweder Mann oder Frau. Bist du nicht das eine, mußt du eben das andere sein. Außer deinem biologischen Geschlecht (Sex) hast du noch deine soziale Geschlechterrolle (Gender). Sie ist ein kulturelles Konstrukt. „Warum“, fragt Thomas, „soll es dann nicht mehr als zwei Gender geben?“ Schnell folgt der Frage ein Lächeln, das so verwirrend ist, weil es einerseits weiblich-charmant und dann doch auch wieder männlich-kokett daherkommt.

Thomas ist in einer traditionellen Großfamilie in einem Reservat in New Mexico aufgewachsen. „Außer meiner natürlichen Mutter hatte ich noch acht weitere; insgesamt waren wir 106 Familienmitglieder.“ Es war seine Großmutter, die entdeckte, daß er anders war als die Jungs um ihn herum. „Was es war? Ich weiß es nicht. Die anderen Jungs haben behauptet, ich wäre immer heulend ums Haus geschlichen, statt mit ihnen zu spielen.“ Und wieder lacht Thomas über die ganze Fläche des Gesichts, auf dem jedes Mienenspiel soviel Platz hat wie der Ball auf einem Tennisfeld.

Wesleys Großmutter schlug der Familie vor, ihren Enkel als Nadleehé zu erziehen. Welcher Navajo ins dritte oder vierte Geschlecht wechseln darf – und damit nicht seine biologische, aber seine soziale Rolle verändert –, entscheidet die Großfamilie. Meist schon bei kleinen Kindern. Wesley wurde vom vierten Lebensjahr an als Mädchen behandelt. Er durfte Frauenkleider tragen und alle Arbeiten lernen, die dem weiblichen Geschlecht zufallen. Bis heute haben die Navajos eine matrifocale Kultur; Frauen sind das Oberhaupt der Familie. Bei allen wichtigen Aufgaben gibt es eine strikte geschlechtsspezifische Arbeitsteilung. Frauen kochen, weben und versorgen die Kinder. Die Männer kümmern sich um Feld und Vieh, besorgen das Holz und bauen die achteckigen Häuser.

„Das zweite Geschlecht bei uns ist so schrecklich faul“, beschwert sich Thomas – in einem Ton, den eine nörgelig-überlastete Ehefrau nicht besser hinkriegen und der ihr Tränen des Einverständnisses in die Augen treiben würde. Mit einer wegwerfenden Geste, die seine silbernen Armreifen klappern läßt, fügt er hinzu: „Alles muß man selber machen, die ganze Verantwortung bleibt doch an uns hängen.“ Uns, das ist das erste und vierte Geschlecht.

Wesley Thomas ist heute Ende Dreißig, lebt teils im Reservat, teils in Seattle. An der dortigen University of Washington forscht er als Ethnologe über gender variance bei nordamerikanischen Indianern – denn nicht nur bei den Navajos gibt es die kulturelle Konstruktion von mehr als zwei Geschlechtern. Bei seinem Stamm genießt Thomas einen besonderen Status. Nadleehés sind two-spirited-people, Wesen, die zwei Geister in sich vereinen. Sie sind hoch angesehen, gelten als besonders inspiriert und werden zu religiösen Handlungen und als Vermittler und Berater herangezogen. „Wir gelten als wohlhabend“, erklärt Thomas und nestelt an seinen türkisbesetzten Silberringen, die wie kleine Hügel auf seinen Fingern hocken, „was nicht im materiellen Sinn zu verstehen ist, sondern reich an Wissen bedeutet.“

Jede Familie, die einen Nadleehé in ihrer Mitte hat, fühlt sich geehrt. Zumindest traditionelle Familien. IndianerInnen, die durch und durch amerikanisiert sind, die ihre Wurzeln verloren haben und sich weder an Navajo-Sitten, noch an die Sprache erinnern, ahnen nichts mehr vom gender blending, dem Geschlechterrollenwechsel. Seit Anfang dieses Jahrhunderts ging das Wissen um den Mythos und seine Wirklichkeit durch westliche Einflüsse verloren. Heute gibt es nur noch ganz wenige Nadleehés. Sie werden von ihren Familien behütet und nach außen abgeschirmt. Thomas kennt in seinem Reservat mit knapp 200.000 Navajo-IndianerInnen nur drei männliche und keinen einzigen weiblichen „Gewandelten“. Auch in Zeiten, als das gemischte Geschlecht noch verbreiteter war, gab es mehr männliche als weibliche.

„Die meisten Menschen“, berichtet Thomas, „sehen einfach keine Alternative zu der kulturellen Beschränkung auf nur zwei Geschlechter. Selbst, wenn sie sich nicht recht wohl fühlen in ihrer Haut.“ Wer kennt schon andere Rollenmodelle als die durch den westlichen Dualismus geprägten? Deshalb hat Thomas angefangen herumzureisen – in den USA und in Europa – um die Kunde vom alternativen Geschlecht zu verbreiten. Bei Vorträgen und Lesungen wirbt er für Ambivalenz und ein Leben in geschlechtlicher Zweideutigkeit.

Denn nicht einmal Transsexualität sabotiert die Polarität der Geschlechter und die damit verbundene Hierarchie. Transsexuelle wollen ihren Körper überlisten und streben nach geschlechtlicher Eindeutigkeit. Zur Not durch Operation. Ein Nadleehé braucht das nicht. Sein Körper, der dem einen Geschlecht zugehört, und sein Geist, der aus dem anderen stammt, sind sich nicht Feind. Ein männlicher Nadleehé durchbricht – ohne seine Identität als Frau anzuzweifeln – überkommene Konzepte von Weiblichkeit und weiblicher Rolle. Eine weibliche vice versa. „Ich empfinde mich als einen Menschen“, bekennt Thomas wie ein schüchterner Missionar, „der Männliches und Weibliches harmonisch vereint.“ Hatte erjemals Probleme mit seiner Rolle? „Ich kann mich nicht erinnern. Es war für mich immer so selbstverständlich.“

Wesley Thomas lebt mit Männern. In festen Beziehungen. „Nein, es ist eigentlich keine gleichwertige Partnerschaft“, gibt er zögerlich zu, als ginge es bei dieser Frage um eine Falle, „ich als Nadleehé dominiere.“

Richtig ärgern kann man ihn, wenn man ihn als schwul bezeichnet. Er, an dem rundherum alles rundlich wirkt, kriegt plötzlich scharfe Falten um Mund und Nase. „So zu denken, ist typisch westlich“, schnappt er. Sex gilt bei den Navajos nicht viel. In ihrer Werteskala rangiert Sexualität erst an achter Stelle. Vorrang hat im sozialen Leben das, was man tut – die Arbeit. Darüber wird man definiert. Deshalb ist das Etikett der Nadleehés nicht ihre sexuelle Präferenz, sondern daß sie einer anderen Beschäftigung nachgehen als die ihrem biologischen Geschlecht entsprechende.

„Wer schwul oder lesbisch ist, verkehrt mit Personen vom selben Sex und selben Gender“, erläutert Thomas erbost. Könnte er seinen glatten schwarzen Haaren befehlen, würden sie sich zur Unterstützung aufstellen wie Eisenborsten: „Wenn ich einen Mann liebe, gehören wir zwar zum selben biologischen, nicht aber zum selben sozialen Geschlecht. Das ist das entscheidende. Wir werden eben nicht als gleichgeschlechtlich betrachtet.“ Entnervt, als korrigiere er ein begriffsstutziges Kind, fügt er hinzu: „Ich werde nicht als Mann klassifiziert. Ich bin eine Frau.“ Seine Lebenspartner sind deshalb auch nicht homo-, sondern heterosexuelle Männer.

Und um die Verwirrung komplett zu machen: Würde Wesley als Weibmann eine Frau lieben, wäre er für seine Familie und seinen Stamm ein Homosexueller. Und das würde negativ sanktioniert. Denn die Navajos sind nicht ausgesprochen tolerant in puncto Sexualität. Traditionell gibt es Homosexualität gar nicht. Wer lesbisch oder schwul ist, verläßt das Reservat und lebt in einer der größeren Städte. So läßt sich zwar eine homosexuelle Identität finden, die indianische aber geht verloren.

Doch „Anderssein“ kann eben auch anders sein. Was wäre, wenn alles anfing zu tanzen, sich verdrehte, vermischte, sich löste und neu vereinte?

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen