: Wer wählt, ist selber schuld!
Im „Superwahljahr“ 1994 eine alternative Staatsbürgerkunde und eine Verteidigung des Nichtwählers. Des Autors zynischer Leitspruch: Du hast eine minimale Chance, nutze sie nicht ■ Von Hans Monath
Der Blick auf die Graffiti im Männerklo lohnt sich immer. Denn manchmal sind sie nicht nur unterhaltsam, sondern machen auf einen Schlag ebenso schlau wie die mühsame Lektüre eines 235 Seiten umfassenden politischen Sachbuchs. „Wenn Wahlen etwas ändern würden, wären sie verboten“, heißt einer dieser Sprüche. Wenig anders lautet auch das Resümee von Uwe Kochs rechtzeitig zum Auftakt des Superwahljahrs erschienenem Buch „Das Gewicht der Stimme“.
So billig wie auf dem Männerklo ist die Weisheit bei Koch allerdings nicht zu haben. Auf vier Untersuchungsgänge durch die unübersichtliche Mechanik der Wahldemokratie (der Unterschied ist wichtig: es gibt auch Losentscheide) schleppt der Autor seine willigen Leser. In didaktischer Absicht prüft er, ob der Wähler mit seiner Stimme überhaupt die von ihm gewünschte Wirkung erzielen kann. Inwieweit stehen mit den aussichtsreichen Parteien tatsächlich Alternativen zur Wahl? Sind die Parteien ihrer Selbstdarstellung entsprechend demokratisch gelenkt und legitimiert? Schließlich geht es um die Frage, wie sehr die Verfassungsorgane vom Wählerwillen abhängen und ob sie über Gestaltungsmöglichkeiten verfügen. Entspannung bietet zwischen zwei Prüfgängen ein flott formuliertes Kapitel über die Zurichtung eines austauschbaren Menschen zum austauschbaren Politiker.
Seine Untersuchung treibt Koch auf breiter Faktenbasis sowie mit manischer Freude am abseitigen Detail voran, und er breitet die Ergebnisse fast genüßlich aus: Die Wirkung der Stimmabgabe ist für ihren Inhaber nicht berechenbar, was aber auch nicht so schlimm ist, denn sie hat keine Wirkung. Der Wähler kann sich den Kandidaten nicht aussuchen, den er wählt, er kann ihm keinen Auftrag mitgeben, denn der Gewählte ist nur der Partei hörig. Die Parteien aber halten sich an keine Programme und unterscheiden sich kaum voneinander. Neue Kräfte, die Änderungswillen in das Parlament tragen, werden im demokratischen Mahlwerk innerhalb kurzer Zeit so glatt geschliffen, daß sie niemandem mehr weh tun. Aber das Parlament ist ohnehin ziemlich unwichtig, die Regierung eigentlich auch. Von niemandem kontrollierte Bürokraten und die Wirtschaft treffen die Entscheidungen. Die Wahl dient nur der Legitimierung der „politisch Etablierten“. Jede abgegebene Stimme stützt sie.
Zum Auftakt des Superwahljahrs plädiert Koch für Enthaltung. In der Wahlkabine nämlich erliegt seiner Ansicht nach der Wähler einer Illusion: Er gibt sich dem Größenwahn hin, er habe etwas zu sagen. Dabei verhilft das System des Wählens nach Koch nur zu einer „Verbesserung des Gefühls“.
Im Kernstück des Buches greift der bekennende Nichtwähler Kritikpunkte auf, die von den Protagonisten der Parteienkritik wie Hans Herbert von Arnim und Erwin K. Scheuch in den vergangenen Jahren herausgearbeitet worden sind. Es sind Defizite, für deren Beseitigung die Analytiker der Politikverdrossenheit und die Wachsameren unter den Politikern längst Vorschläge erarbeitet haben. Diese Vorschlägen interessieren Koch allerdings nur am Rande.
Akribisch trägt er Belege zusammen für die Verselbständigung der Parteien und ihre Entwicklung zu Instituten zum Erhalt der eigenen Macht. Koch geht es um die Selbstbedienungspraxis von Mandatsinhabern und Parteimanagern, um Klüngelei und andere Formen unkontrollierter Entscheidungen, denen anschließend im Licht der Fernsehkameras durch offizielle Abstimmungen eine Legitimation verliehen wird. Es geht auch um den Einfluß der Parteien auf die Listenzusammenstellung, die es Wählern bei Bundestagswahlen nicht erlaubt, einen mißliebigen Kandidaten zu vernachlässigen zugunsten eines schlechter plazierten Favoriten. Das hat Folgen: Die großen Parteien verlieren Wähler, der Parteinachwuchs bleibt aus, und die Mehrheit der Bürger hält ihre Repräsentanten längst für potentiell korrupt.
Für überzeugte Wähler hält Koch traurige Zumutungen bereit, die das Lesen lohnen. So erinnert er daran, daß bei Bundestagswahlen noch nie eine Oppositionspartei kraft ihrer Argumente an den Kabinettstisch gewählt worden ist, daß Regierungswechseln in Bonn immer ein Koalitionswechsel vorausging, der dann erst mit gehörigem zeitlichen Abstand vom Wähler bestätigt werden durfte.
Aber Kochs Buch ist leider auch ein Beispiel für die Zurichtung der Wirklichkeit anhand einer einzigen These. Handelnde Menschen kommen kaum vor, Symbole interessieren den Autor nicht. In seiner mechanistischen Politikwelt ist von Gefühlen nur im Zusammenhang mit Selbsttäuschung die Rede. Koch blickt vom Rand auf die politische Landschaft, seine Leitidee ist das „ganz Andere“, das ewig nicht kommen will.
Der Erststimme bescheinigt Koch, sie habe keine Bedeutung. Aber Direktkandidaten werden nun mal mit relativer Mehrheit im Wahlkreis gewählt. Auch diese Tatsache wendet Koch sophistisch gegen die Wirklichkeit. Einen „sicheren Wahlkreis“ zu gewinnen gilt ihm als degoutant, was ihn letztendlich zu der nicht eben menschenfreundlichen Einsicht führt: „Ganz offensichtlich sind Mehrheit und Dummheit verwandt.“ Das versöhnt die Leser, die wie Koch eben nicht zur dummen Mehrheit gehören wollen, mit der Einsicht: „Demokratie kann nur funktionieren, wenn das Volk nicht allzuviel zu sagen hat.“
Lange vor der Blütezeit der Politikverdrossenheit hat sich der Politologe Klaus von Beyme über das Selbstbild der Demokratie Gedanken gemacht. Er kam zu dem Ergebnis: „Selbst wenn Zyniker ,errechnen‘ könnten, daß Parteien im Leistungsergebnis kaum einen Unterschied machten, müßte die gegenteilige Annahme als ,Lebenslüge‘ der Demokratie weiter verteidigt werden.“ Mit Koch ist dieser besessen rechnende Zyniker nun aufgetreten. Sein trauriger Leitspruch zum Superwahljahr heißt: Du hast eine minimale Chance. Nutze sie nicht. Wem Helmut Kohl und Joschka Fischer, Graf Lambsdorff und Gregor Gysi alles eins sind, der sollte sich nach diesem Motto richten. Es kostet nicht viel.
Uwe Koch: „Das Gewicht der Stimme. Die Verteidigung des Nichtwählers“. Rotbuch Verlag, 1994, 235 Seiten, 29,80 DM
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