„POUM-SAP, Report by Willy Brandt“

Der Text, den wir auf diesen Seiten vorstellen, fand sich in den nachgelassenen Papieren des Psychologen, Sexualwissenschaftlers und (zeitweiligen) revolutionären Marxisten Wilhelm Reich. Es handelt sich um einen maschinengeschriebenen, achtseitigen Brief ohne Anrede und Unterschrift, der das Datum vom 16.4.1937 und die Ortsangabe B. (aus dem Zusammenhang wird klar, daß es sich um Barcelona handelt) trägt. Auf der ersten Seite ist links oben handschriftlich die Abkürzung W.R. vermerkt, in der Mitte steht „POUM-SAP, Report by Willy Brandt“. „POUM“ steht für Partido Obrero de Unificacioń Marxista, eine revolutionäre spanische Organisation, die mit der kommunistischen dritten Internationale gebrochen hatte, die Sowjetunion Stalins als despotischen Zwangsstaat kritisierte und deshalb von den spanischen Kommunisten und den in Spanien operierenden Gruppen des sowjetischen Sicherheitsdienstes NKWD mit tödlichem Haß verfolgt wurde. „SAP“ steht für Sozialistische Arbeiterpartei, eine aus ehemaligen deutschen Sozialdemokraten und Kommunisten zu Beginn der dreißiger Jahre gegründete linkssozialistische Organisation, die mit der POUM freundschaftlich verbunden war. Brandt war 1937 noch Mitglied der SAP und hielt sich, wie aus seinen „Erinnerungen“ hervorgeht, zu dem Zeitpunkt, als der Brief geschrieben wurde, in Barcelona auf. Daß Anrede und Unterschrift fehlen, erklärt sich aus dem damals allgegenwärtigen Zwang zur Konspiration bzw. zur Vorsicht. Der befreundete Filmemacher, der die vorliegende Kopie anfertigte, war ungeschickt genug, auf einigen Seiten die letzte Zeile abzuschneiden. Da das Original für uns nicht greifbar ist, mußten wir diese Auslassungen in Kauf nehmen und haben sie gekennzeichnet.

Willy Brandt und Wilhelm Reich kannten sich bereits aus dem gemeinsamen norwegischen Exil. Brandts damalige Freundin Gertrud Meyer, auch sie SAP-Aktivistin, arbeitete als Sekretärin in Reichs finanziell abgesichertem „Institut für Sexualökonomische Lebensforschung“ und trug so dazu bei, ihren Lebensgefährten über Wasser zu halten. In Norwegen, wo er vorübergehend großen Einfluß erlangt hatte, vollzog Reich die „Wende“ vom psychoanalytisch veredelten Marxismus zu seiner Orgonomie-Theorie. Brandt war vom Charisma des verfemten Psychoanalytikers beeindruckt, hielt aber dennoch zur Person wie zu den Lehren Reichs vorsichtig Distanz. Einige Motive des hier abgedruckten Briefes zeigen seine Vertrautheit mit den Themen der „Sexpol“- Bewegung.

Für Brandt waren die Monate in Barcelona Zeiten eines lebensgeschichtlichen Umbruchs. An der Aragon-Front lernte er den schwerverwundeten George Orwell kennen, der in den Reihen der Anarchisten bzw. Anarchosyndikalisten gekämpft hatte und der ihn über die Versuche der Kommunisten unterrichtete, im Bündnis mit den Kräften des Kleinbürgertums die Macht in Katalonien an sich zu reißen. Im Mai 1937, einen Monat nachdem Brandt an Reich geschrieben hatte, wurde dieser Machtkampf in den Straßen und in der Telefonzentrale Barcelonas blutig ausgetragen. Einer der besten Freunde Brandts, Sohn eines menschewistischen Emigranten, wurde vom NKWD verschleppt und ermordet. Wie aus Brandts „Erinnerungen“ hervorgeht, gab dieses Erlebnis für ihn den Ausschlag, sich dem „demokratischen Sozialismus“ zuzuwenden.

In seinem Brief sieht Willy Brandt die Notwendigkeit, die Kriegsführung in Spanien zu zentralisieren und den revolutionären Prozeß im Interesse einer antifaschistischen Koalition zu begrenzen. Aber ihm ist auch klar: Wird der Elan „der Massen“ gelähmt, so hat dies nicht nur fatale Folgen für die sozialistische Perspektive, sondern auch für die Verteidigung der spanischen Republik. Das Foto stammt aus den bei Ullstein erschienenen „Erinnerungen“ und zeigt Willy Brandt 1937 in Barcelona. Christian Semler