2. Aufstehen: ca. 10 Minuten

■ Butoh am Anhalter Bahnhof: „Die dunkle Nacht“

Wem der Frühling zu früh kommt, der flüchte. Zum Beispiel in den Luftschutzbunker am Anhalter Bahnhof. Im dortigen Keller ist es wirklich kalt. Besonders, wenn man der Verlockung nicht widerstehen kann und meint, endlich mal wieder seine Frühlingsklamotten ausführen zu müssen. Selbst schuld, wer nicht vorab im Besitz einer Werbepostkarte der Andromeda-Produktion ist – dort steht nämlich zu lesen: „Der Bunker ist unbeheizt – bitte warme Kleider anziehen.“ Selbst schuld ist aber auch, wer nach diesem Artikel diesen Ort überhaupt noch aufsucht, um Olek Witts Vorführung des Butoh-Tanzstücks „Die dunkle Nacht“ beizuwohnen.

In einer Stunde passiert ungefähr folgendes: 1. Ein Mann (nur mit einem Lendenschurz bekleidet (!), den nackten Körper ganz mit grauer Asche eingerieben, kauert ungefähr zehn Minuten lang reglos auf dem Boden. 2. Der Mann steht auf (dauert über zehn Minuten, und die ersten Leute gehen). 3. Er bewegt sich von der rechten auf die linke Seite (circa zehn Minuten). 4. Er starrt auf einen Lichtstrahl, der durch einen Spalt im Hintergrund auf die gegenüberliegende Wand fällt (circa zehn Minuten). 5. Er dreht sich zum Publikum und starrt nun in den über ihren Köpfen angebrachten Scheinwerfer; das tut er noch, als ich gehe, denn: 6. Das Stück ist aus.

Das Ganze handelt von dem spanischen Mystiker Johannes vom Kreuz (1577–1591) – sagt das Programmheft – und da liegt es nahe, daß dieses Starren auf Lichtquellen etwas mit Erleuchtung zu tun hat: Die Erleuchtung findet, wer sich abwendet vom irdischen Jammertal und den Kopf hebt und unerschütterlich in das Licht von Scheinwerfern starrt. Irgend so etwas Ähnliches war gemeint, und mehr gab es nicht zu sehen: Butoh lebt von der Reduktion, die aber muß man in der Lage sein, auszufüllen – sonst geschieht nämlich gar nichts, beziehungsweise nur das wenige Äußerliche, das doch eigentlich Großes und Unsagbares beinhalten soll.

Wäre es nicht so furchtbar kalt, man könnte dem Ganzen vielleicht noch einen gewissen Witz abgewinnen. Aber nicht nur der Tänzer in seinem Lendenschurz und seiner ganzen Asche quält sich fürchterlich – nein, die Zuschauer werden mitgequält. Sicher ist der Bunker ein wunderbarer Spielort, der hier nicht für immer und für alle Zeit vermiest werden soll – aber was dort gespielt wird, muß dann eben mindestens so gut sein wie der Ort und die Kälte vergessen machen.

So kann man nur neiderfüllt den Zuschauern hinterherschauen, die keine Berufspflicht zu erfüllen haben und einfach das Weite suchen. Dann starrt man wieder auf Olek Witt, weil sonst nichts passiert und weil man ja schließlich irgendwo hingucken muß. Der sieht ein wenig aus wie ein Zombie aus einem Gruselfilm. Man beginnt, auf seinem Block Gemeinheiten zu notieren. Man findet das selbst gemein, und als Olek Witt im dritten Akt seines Dramas die Augen aufschlägt, denkt man, daß er wahrscheinlich ganz nett ist. Man erinnert sich, wie man sich selbst schon blamiert hat, als man mit Sachen, die einem zu wichtig waren, an die Öffentlichkeit getreten ist. Man denkt daran, daß es ja auf alle Fälle irgendwann vorbei ist und man nach Hause gehen und einen heißen Tee trinken kann. Man schaut in die Gesichter der anderen Zuschauer und sieht, daß auch sie leiden, und fühlt sich ganz verbunden, und das ist schließlich auch etwas. Michaela Schlagenwerth

Bis 9.4., jeweils Do.–Sa., 20 Uhr, Luftschutzbunker am Anhalter Bahnhof, Schöneberger Straße 28, Kreuzberg.