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Der Trieb, der Traum und der Tod

Obskure Objekte und ihr diskreter Charme. Eine Ausstellung in der Bundeskunsthalle Bonn präsentiert Luis Buñuel – surreal und suggestiv: als „Auge des Jahrhunderts“  ■ Von Thomas Fechner-Smarsly

Einen Augenblick war man bereit zu glauben. Zu glauben, daß die Bilder an den Wänden sich wirklich bewegten, daß der Film liefe, ja, daß der ganze Saal ein einziger Film wäre. Dann folgt unmerklich der erste Schnitt, das Gehirn korrigiert die Trägheit des Auges und konstatiert: Hier bewegt sich nichts und niemand außer den verwirrten Besuchern – und dem possierlichen, doch gleichfalls trägen Skorpionpärchen in seinem Bassin.

Letzteres begegnet dem Flaneur durch die Bonner Bundeskunsthalle noch einmal: in einem Ausschnitt aus Luis Buñuels Film „L'Ûge d'or“ tötet eines der Tierchen eine ungleich größere Ratte, ehe es sich wieder dem Liebesspiel zuwendet. Ganz so wie das nette Menschenpaar im nämlichen Streifen sich gegen jegliche Störer verwahrt, die es an der freien Entfaltung ihrer Lustbarkeiten hindern wollen. Mit heftiger Aggression (Er), mit ebensolchem Schmachten (Sie).

Es sind die frühen Jahre der surrealistischen Bewegtheiten und Saalschlachten, der entfesselten Triebe und der skandalösen Umtriebe. Luis Buñuel beteiligt sich nach Kräften daran. Gemeinsam mit Salvador Dali konzipierte er 1929 in Paris seinen ersten Film, „Un chien andalou“, ein Jahr später folgte „L'Ûge d'or“ – zwei Versuche, mit den guten Sitten zu brechen wie dem Hang zu erklärbaren Bildern. Die Skandale hielten sich in Grenzen, die beiden Filme wurden zu Inkunabeln eines Kinos der Obsessionen. Wie richtet man einem Filmemacher eine Ausstellung ein? Am besten wie eine Kirche für einen Ungläubigen. Tatsächlich gleichen die Wände der Bonner Bundeskunsthalle mit ihren endlosen Reihen von Standbildern aus „L'Ûge d'or“, immer sechs übereinander, den himmelwärts strebenden Glasfenstern einer gotischen Kathedrale. Tatsächlich gibt es überall Nischen mit Andachtsbildern und Verkündigungsszenen der anderen, der surrealistischen Art. Es züchtigt die Jungfrau das Jesuskind auf einer Zeichnung Max Ernsts, und eine Seitenkapelle zeigt die Abendmahlsszene aus dem Film „Viridiana“, während Apparaturen gegen ein geringes Entgelt den Erwerb einer Postkarte mit Leonardos Darstellung (respektive Dalis Version) des gleichen Ereignis erlauben. Und im Mittelschiff findet die stündliche Messe statt, unter fortwährendem Abspielen von „Un chien andalou“.

Kleine Heilige gegen spanische Sexfeinde

„Gott sei Dank bin ich Atheist geworden“, hat sich Buñuel, geboren im Jahre des Herren 1900, gestorben 1983 in Mexico City, einmal bekannt. Dabei hatte er wohl die irdischen Umstände seiner Jugend im Sinn, den bigotten Katholizismus der spanischen Provinz und die Sexualfeindlichkeit einer autoritären Gesellschaft, der er vor allem mit seinen Filmen aus den sechziger und siebziger Jahren eine gehörige Triebabfuhr verpaßte. Vom „Würgeengel“ (1962) bis zum „Diskreten Charme der Bourgeoisie“ (1972) stellte er das Zwanghafte bloß, mit grotesker Schärfe und ohne jedes Mitleid, das noch die pessimistischen Filme über die Illusionen vergessener Gestalten aus der mexikanischen Zeit prägte. Aber in allen seinen Filmen treten immer wieder auch die kleinen Heiligen und zerlumpten Märtyrer auf, werden Passionsgeschichten erzählt, Pilgerreisen unternommen und Kreuzigungen.

Indessen bleibt Buñuels stärkste Verbindung zum Religiösen unterschwellig – sie liegt im Traum, im Mysterium. Was von der Kirche als Phantasmagorie stets mit Argwohn betrachtet und mit Zensur belegt wurde, nämlich jede Art von Vision, das überträgt Buñuel möglichst ungefiltert aufs Zelluloid. Und was er dabei vorführt, ist vor allem eines: verbotene Bilder.

Verbotene Bilder sind ein roter Faden durch die Ausstellung, deren Konzeption Yascha David besorgte. Nachdem er schon früher ähnliche Veranstaltungen durchgeführt hatte, etwa aus Anlaß des 100. Geburtstages von Paul Eluard im Centre Pompidou, inszenierte er nun zugleich die beste Schau über den Surrealismus, die nicht über den Surrealismus gemacht wurde. Drei Säle, im ersten von ihnen Augen, soweit das Auge reicht: von Man Ray auf ein tickendes Metronom gespießt, von El Lissitzky als Loch in eine Billardkugel gestoßen, von Herbert Bayer auf zwei Hände collagiert, von Dziga Vertov ins Okular einer Zeiss-Kamera gerückt, von Dali auf einen Vorhang gezeichnet (für Hitchcocks „Ich kämpfe für dich“); oder von Max Ernst, René Magritte und Francis Picabia auch nur auf allerlei Leinwand gemalt. Augen auf fein ziselierten Schmuckanhängern des 19. Jahrhunderts oder unter wächsernen Händen einer Operation am Grauen Star, aus einer Lehrmittelsammlung. Das Auge schließlich, von einem ebenso lässig rauchenden wie maliziös dreinblickenden Buñuel höchstpersönlich durchschnitten, in jener berühmten Nahaufnahme aus „Un chien andalou“.

Ob als libidinöses Objekt oder zwecks Sublimierung, im Auge fallen Fetisch und Verehrer, Bild und Betrachter in eins. Damit sind die symbolischen Markierungen gesetzt, der Besucher darf schuldgefühllos auf alles Verbotene blicken, dem „Sehtrieb“ – so der Titel über dem ersten Saal – nachgeben und den nächsten Saal, den der „Begierde“, betreten.

Ein Zickzack-Parcours, ein Kreuzgang aus Stellwänden und Vitrinen, diversen Settings für Fetischisten der distinguierten Kategorie: Im Schrank hängt ein Kleid mit Brüsten drauf – freilich nur den von Magritte gemalten. Dalis „Boîte surrealiste“ versammelt neben einem ausgelatschten Frauenschuh auch ein niedliches Gipspärchen beim Fellatio. Und an den Wänden die bekannten Einstellungen aus den bekannten und unbekannten Filmen Buñuels, immer passend: Ein Mann starrt mit irrem Ausdruck durch eine zerborstene Scheibe, eine Frau nestelt an ihren Strumpfhaltern; eine Entblößung und ein Kuß, der Blick durchs Schlüsselloch und der Griff in ein geheimes Fach, die Gewalt und der Wimpernschlag.

Verdunkelung, Golgatha, Licht aus

Wunderbar verwoben sind all diese Themen: ein Labyrinth, ein Knäuel der psychischen Besetzungen, sichtbar gemacht schon in den Installationen der Ausstellung. Sie ist – dem alten Sigmund hätte es gefallen – voller aufgezogener Schubladen, Schatullen, Schatzkästlein, die sich dem Blick öffnen. Man biegt um die Ecke und steht vor obskuren Objekten. Permanent drängen sich Lust und Lasterliches der Phantasie auf, um am Ende doch, nämlich im allerletzten Saal („Todestrieb“), in einen dunklen Schacht zu stürzen. Zwischen Posadas wilder Jagd der Skelette und einem kreisenden Totenkopfobjekt geht es hindurch, zwischen schwirrenden Insekten ins Flimmern der Bilder aus dem Leben Buñuels, die in raschem Wechsel auf kleinen Monitoren laufen, ein rasender Abspann, ein Trommelwirbel der Erinnerung, während das Dröhnen aus den Lautsprechern anschwillt, der Wirbel der Trommeln von Calanda, die Buñuel in seiner Biographie so eindrücklich beschreibt, eine Rückkehr zur Kindheit, zu den düsteren, den hypnotischen Karfreitagsprozessionen. Verdunkelung, Golgatha, Licht aus.

Was bleibt? Das, was sich dem Auge bietet. Auch eine Geschichte der Wahrnehmung, eben aus einer ganz besonderen, aus der surrealistischen Perspektive. Was zudem bleibt, sind die ausgeführten Begierden und die eingeschriebenen Wünsche, die Fiktionen und die Projektionen, all die Machenschaften des Unbewußten, die hier Film und Bild wurden. Die Ausstellung offenbart das Evangelium nach Buñuel. (Und Eugen Drewermann ist sein Exeget. In einem äußerst lesenswerten Katalog-Interview äußert er sich zu dessen Werk und zum Surrealismus als „angewandter Psychoanalyse“.) Film im Sinne von Buñuel – das heißt auch und immer wieder, die Metaphern wörtlich zu nehmen wie im Traum; Film heißt, eine Operation am offenen Auge durchzuführen, vermittels einer Rasierklinge bei allenfalls örtlicher Betäubung. Und Schnitt.

„Buñuel. Auge des Jahrhunderts“. Kunst- und Ausstellungshalle, Bonn, bis zum 24. April. Ein 520 Seiten starker Katalog kostet 78 DM, ein 50seitiges Filmverzeichnis 2 DM. Parallel zur Ausstellung läuft eine Retrospektive der Filme Buñuels.

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