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■ Cash & CrashPsycho-Stripping

Berlin (taz) – Jeder Psychoanalytiker müßte durchdrehen, wenn die Börse bei ihm auf der Couch läge. Ein Gefühlschaos sondergleichen wird der Institution in den letzten drei Wochen zugeschrieben: verunsichert, dann wieder optimistisch, voll Schwächeneigung, und als es mit ihr Anfang des Monats schlagartig bergab ging, war sie sogar regelrecht schockiert. Nach einem nervösen Zustand am Freitag hat sie sich aber zu Wochenanfang wieder gefangen und zeigt sich nun in freundlicher Verfassung, melden die Blätter.

Der Ausgang der Niedersachsen-Wahl soll das Gemüt der Börse beruhigt haben, glauben einige Insider; immerhin seien die Rechten nicht in den Landtag eingezogen – das beruhige die internationalen Anleger. Andere halten diese These für Quatsch. Einig ist man sich immerhin darin, daß die Abwendung des Streiks in der Metallindustrie und der ÖTV-Abschluß letzte Woche Balsam für die unruhige Seele gewesen sei.

Und noch ein Faktor wird angeführt, um den neuen Aufwärtstrend des deutschen Wertpapiermarktes zu erklären: Die US-Notenbank hatte am Freitag langfristige Staatsanleihen aufgekauft, damit deren Rendite nicht über die als psychologisch wichtig geltende 7-Prozent- Hürde springt. Das hatte die Aktionäre in New York angeblich beruhigt und wieder zum Kauf angeregt; die deutschen Papiere werden nun im Schlepptau mit hoch gezogen. So erklären es die Beobachter jedenfalls.

Und an Tagen, wo die Analysanten keinen Anlaß für die Entwicklung der Kurse finden können, da schaffen sie einen. Kurzerhand wurde am Montag ein Dax-Wert von 2.150 zum psychologisch entscheidenden Dreh- und Angelpunkt hochstilisiert; als der Dax dann gestern Mittag 2.170 Punkte erreichte, hatte dieses Erklärungsmuster schon wieder ausgedient. Jetzt starren sie auf die anstehende Veröffentlichung der Verbraucher- und Erzeugerpreise in den USA.

Aber die Patientin Börse ist weder therapier- noch berechenbar, obwohl Tausende sich an ihr versuchen. Doch darum geht es auch nicht bei der Beseelung dieser Institution, die durch Heimatlosigkeit und Geschwindigkeit ungreifbar ist wie keine andere. Es geht um die Behauptung eines Kampfes mutiger Anleger gegen eine schwer berechenbare Urgewalt in Zeiten, in denen die Natur diesen Part kaum noch übernimmt.

Daß allerdings nur derjenige Mut beweisen kann, der auch über das entsprechende Geld verfügt, gehört zu den Spielregeln. Annette Jensen

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