„Die vielen Sorgen engen meine Seele ein“

■ Die Krankengeschichte des Herrn P. aus der Türkei

Herr P., 47 Jahre alt, kann sich ohne medizinische Präparate nur noch unter Schmerzen bewegen. Morgens, wenn er aufsteht, tun ihm seine Hüften und Knie besonders weh; wenn er gehen will, sticht der Schmerz „wie brennende Nägel“ in den Schultern. Auch die Arm- und Handgelenke spielen nicht mehr mit, wie sie sollten. Nur wenn er liegt, berichtet Herr P., vermag er sich von seiner ständigen Pein ein wenig zu erholen. Seit zwei Jahren ist er arbeitsunfähig. Spritzen und Medikamente lindern sein Leiden, unterdrücken seine Schmerzen soweit wie möglich. Um seine Krankheit zu heilen, haben die Ärzte die verschiedensten Methoden ausprobiert – jedoch ohne meßbaren Erfolg. Der Befund: rheumatoide Arthritis. Bei Herrn P. zeigt jede langfristige medizinische Maßnahme keine Wirkung.

Im regelmäßigen Abstand von jeweils drei Jahren seit 1978 wird er ambulant und stationär in Polikliniken im hessischen Raum eingewiesen, wenn seine Beschwerden schmerzvolle Höhepunkte erreichen. Seine Krankheit ist eine Folge von körperlichen Verschleißerscheinungen, aber aus psychotherapeutischer Sicht gewiß nicht nur. Auf ihm lasten Heimweh und auch der Druck realer Ohnmacht in der fremden Gesellschaft, die ihn lediglich als Arbeitsmaschine vorgesehen hat.

Herr P. war 1969 von Antalya nach Deutschland gereist, nachdem deutsche Firmen dort verstärkt Arbeitskräfte angeworben hatten. Zunächst arbeitete er in Köln, dann ab 1971 in Stuttgart. 23 Jahre lang war er bei derselben Eisengießerei beschäftigt. Er hob Gewichte zwischen achtzig und hundert Kilo und mußte (die Sicherheitsbestimmungen waren minimal) durchschnittlich zehn Stunden am Tag giftige rußig-schwarze Gase einatmen. Von den heißen chemischen Dämpfen wurde ihm dauernd schlecht.

Die Rheuma-Schmerzen stellten sich zum ersten Mal ein, als der damals 33jährige wegen der unerträglichen Arbeitsbedingungen in der Gießerei begann, sich um seine Zukunft und die seiner Familie Sorgen zu machen. Werde ich in ein paar Jahren noch arbeiten können? Was werden die Verwandten über meine Familie denken, wenn ich hier aufgebe? Diese Fragen schwirrten in seinem Kopf herum. 1975 erkrankte seine Mutter in der Türkei an Magenkrebs, sie starb zwei Jahre später. Herr P. entwickelte im gleichen Zeitraum selbst ein Magengeschwür und mußte im Krankenhaus ärztlich betreut werden. 1978 führte ein Personalwechsel dazu, daß Herr P. einen neuen Chef bekam. Der ließ keine Gelegenheit aus, ihn zu schikanieren. Die quälenden Rheuma-Schmerzen nahmen zu. 1980 wurde er als Putzkraft in die Kantine versetzt.

Seine Familie holte Herr P. erst vor sechs Jahren nach Deutschland. Schließlich wurde auch seine Frau schwer krank. „Die vielen Sorgen“, sagt Herr P. der Gießener Psychotherapeutin Emanuela Leyer nach einem erneuten Krankenhausaufenthalt in einem Beratungsgespräch, „engen meine Seele ein.“ Herr P. hat die Psychotherapie mit seiner Entlassung aus der Klinik abgebrochen. Es fiel ihm zu schwer, nun doch noch jemandem wirklich zu vertrauen. Franco Foraci

Empfehlenswerte Literatur zum Thema: Emanuela Maria Leyer: „Migration, Kulturkonflikt und Krankheit – Zur Praxis der transkulturellen Psychotherapie“, Beiträge zur psychologischen Forschung, Bd. 24 Opladen, Westdeutscher Verlag 1991