: "Wir Schwule verstehen zu sterben"
■ Gesichter der Großstadt: Der aidskranke Buchautor Napoleon Seyfarth will noch soviel Spaß wie möglich haben / Seine Beerdigung plant er als großes Happening
Im Spätsommer 1988 trifft Napoleon Seyfarth abends in der Schwulenkneipe „Toms Bar“ seinen Hausarzt. Der sagt nur: „Komm mal wieder in meine Praxis.“ Da ist ihm klar: „Ich habe Aids.“ Seine erste Reaktion? „Tief durchatmen, an die Bar gehen und erst mal ein Bier bestellen.“ Am nächsten Morgen hat er sich dann hingesetzt und alles aufgeschrieben, was er jetzt machen will: „Testament schreiben, um die Verwandten zu enterben. Beamter werden wegen der Pension und heiraten, damit die Witwenrente nicht verkommt.“ Das war die Pflicht, dann kam die Kür. Die Ärzte hatten ihm gesagt: „Kein Grund zur Beunruhigung, Herr Seyfarth, Sie haben noch mindestens drei Jahre zu leben.“
Sechs Jahre sind seither vergangen. Ganz in Schwarz steht er vor uns. Er ist klein wie sein Namensvetter Napoleon, der rechte Arm ist verkümmert wie der von Kaiser Wilhelm II. Im Gesicht ein schwarzer Schnurrbart, große braune Augen. Auf dem kahlrasierten Kopf kringelt sich nur eine Haarlocke in die Stirn.
Wenn Napoleon über seine Krankheit spricht, klingt er nicht bitter. „Es wäre wahrscheinlich irgendwann sowieso passiert“, sagt er und zieht vielsagend seine rechte Augenbraue hoch. „Es war mir sehr wichtig, genau den Tag, an dem es passiert ist, rauszubekommen.“ Die Nacht, in der sich Napoleon wahrscheinlich infiziert hat, „war ein Vierer und hat Arsch- Spaß gemacht“, sagt er und lächelt. „Ich würd's auch noch mal machen, so geil war das.“
Napoleon führt uns durch seine Wohnung. „Neuschweinstein“ hat er sie getauft. „Schweine bedeuten für mich Ehrlichkeit. Schwule sollten offen sein und zu ihren Schweinereien stehen“, sagt Napoleon und zeigt stolz seine Sammlung. Rosa Borstenviecher in allen Lebens- und Liebeslagen: „Journalistenschweine, schwule Schweine, lesbische Schweine“ – drei Zimmer vollgestopft mit Schweinkram. Der Entwurf seiner Urne hat einen Ehrenplatz im Schlafzimmer: ein schwarzes Keramik-Schwein mit der Inschrift: „Ich war eine Dose.“
So offen er uns sein Reich der Schweine zeigt, so offensiv geht er mit seiner Krankheit um. Napoleon redet gerne über seinen Tod. Seine Beerdigung plant er als großes Happening: Die Orgelversion des Liedes „Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei“ soll erklingen. Eine bunte Dia- und Videoshow über sein Leben ist geplant. Und als Inschrift für den Grabstein wünscht er sich: Des Schweines Ende ist der Wurst Anfang. „Alle sollen Spaß haben, man soll nicht trauern, sondern sich freuen, daß ich da war“, sagt er und lacht über seinen schwarzen Humor.
Seit er weiß, daß seine Zeit begrenzt ist, heißt es für ihn: Jetzt erst recht. „Lieber intensiv gelebt und früh gestorben.“ Jeden Abend geht's ab in die Szene: „Ich lebe extremer und ungesünder als vorher. Wenn ich immer auf meine Ärzte gehört hätte, wäre ich jetzt schon tot.“
Er hat sich vorgenommen, noch soviel Spaß wie möglich zu haben: „Gut, ich hab mir damals gesagt: Ich kann mich auch wochenlang hinsetzen und heulen, dann werde ich sterben. Aber ich kann auch weiter rauchen und Bier trinken, dann werde ich auch sterben“ – spricht's und zieht kräftig an der zehnten Zigarette. In einer Hinsicht allerdings hat er sein Leben geändert: „Ich bin egoistischer und ungeduldiger geworden, und ich geize mit meiner Zeit.“ Meistens denkt er aber gar nicht an seinen Tod.
„Ich habe weniger Angst vor dem Tod als davor, zu sterben, ohne daß die Leute gewußt haben, wer ich wirklich bin“, sagt Napoleon. Diese Angst war 1991, als zeitweilig sein Sprachzentrum ausgefallen war, so groß, daß er anfing, ein Buch zu schreiben. In „Schweine müssen nackt sein“ hat er sein Leben als Schwuler und Aidskranker verarbeitet. Mittlerweile schreibt er sein drittes Buch.
„Der tägliche neue Wille zu leben gibt mir Energie“, sagt er. Jeden Tag sitzt er mindestens vier Stunden an dem Computer, der zwischen Biergläsern, Aschenbechern und einem Papierwust in der hinteren Ecke der Küche steht. Insgesamt 120 Lesungen hat er schon in ganz Deutschland gehalten. Auch wenn es ihm schlecht geht, hält er mit eisernem Willen diese Termine ein. Sein Lieblingsschwein Albert, das im Lederoutfit steckt, ist immer mit dabei.
Wie bei anderen Leuten Urlaubspostkarten, hängen bei Napoleon Todesanzeigen von Freunden an der Küchenwand, die an Aids gestorben sind. „Ich hänge mir den Tod an die Wand. Es sind Erinnerungshilfen. Ich gucke dann dadrauf und sage mir: Ach ja, der Reinhold. Und ich denke daran, was wir zusammen gemacht haben.“ Den Entwurf seiner eigenen Anzeige hat er schon mal dazugehängt. „Andere mögen zwar besser gelebt haben als ich, aber so, wie ich gestorben bin, das muß mir jemand nachmachen. 1953–19??“ Domenica Riecker
Patricia Pantel
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