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Der Vormittag des Architekten

Mensch, Tier und Objekt „verkugeln“ sich zu warmen Volumen: Eine Ausstellung im Kunsthaus Wien entdeckt die Freien Künste als „geheimen Ursprung“ der architektonischen Erfindungen von Le Corbusier  ■ Von Katrin Bettina Müller

Wenn er vor der Kamera über Architektur sprach, zeichnete Le Corbusier zuerst eine Sonne auf die Schultafel. Hatte er dann die Orientierung der Räume zum Licht hin erklärt, ließ er mit weit ausholenden Bewegungen ein Automobil heranrollen, um auch die Erschließung des Gebäudes zu beschreiben. Schon in dieser einfachen Zeichnung artikulierten sich zwei Prinzipien, die seine urbanen Visionen prägten: Steht die Sonne für die gleichsam „organische“ Struktur des Raumkörpers, um den elementaren Bedürfnissen des Menschen gerecht zu werden, so ist das Automobil Chiffre einer technischen, sozialen und geistigen Beweglichkeit, die auf die gesellschaftlichen Forderungen reagiert.

Beide Ideen taugen als Brücken, um in der Retrospektive über den Maler und Architekten Le Corbusier im Kunsthaus Wien die Verbindungen zwischen seinen Architekturkonzepten und seinen Zeichnungen, Bildern und Skulpturen zu entdecken. Auf der Suche nach den Strukturformen des Organischen bildete der Architekt in der Kunst jenes Vermögen der Abstraktion und Transformation aus, das ihm erlaubte, den Maßstab des Menschlichen in immer größere Dimensionen zu übersetzen.

In den ersten Stilleben des Malers, die er noch mit seinem Geburtsnamen Charles-Edouard Jeannert signierte, zeugt die Konjunktur der Flaschen und Gitarren unzweifelhaft von der Berührung mit dem Kubismus. Flächigkeit bestimmt den Bildraum; die Objekte klappen wie Pappmodelle auf und verschränken ihre Konturen. Dabei befand sich Le Corbusier Anfang der zwanziger Jahre gemeinsam mit dem Maler Amde Ozenfant in einer Kampagne gegen den Kubismus. Sie strebten mit einer programmatisch „Purismus“ genannten Malerei eine Präzision der Darstellung und Ökonomie der malerischen Mittel an, um die rationale Ordnung der industrialisierten Gesellschaft ästhetisch vorwegzunehmen. Zu viele Desiderate, denen die Wirklichkeit der Produktivkräfte nicht entsprach, belasteten den Purismus und der theoretische Druck entzog den Bildern jede Leichtigkeit. Dichter wird die Fülle der Objekte und komplexer ihre Verschränkung in den Bildern von Le Corbusier, die Ende der zwanziger Jahre nach dem Bruch mit Ozenfant entstanden. Er schmuggelte organische Formen in das kleinteilige Gefüge. Im Bild „Die Dame mit Katze und Teekanne“ (1928) „verkugeln“ sich Mensch, Tier und Objekt zu warmen Volumen. Als Chiffre der Hoffnung auf ein harmonisches Ineinandergreifen von Mensch und Technik kann die Hand gesehen werden, die sich in vielen Bildern zwischen Maschinenteilen und Werkzeugen emporreckt: Kammartig sind die Glieder der einzelnen Finger abgesetzt, als könnten sie sich jederzeit mit der Mechanik verzahnen. Aus dieser intendierten Verschmelzung von Mensch und Maschine erhält die architektonische Konzeption der zehner Jahre auch in späteren Zeiten noch ihr Tempo. Von der Zelle des Einfamilienhauses schreitet Le Corbusier rasant fort zur mehrzelligen Wohnmaschine und zur Millionenstadt. Ein Modell zeigt das Haus „Dom-Ino Sans Lieu“ (1914), reduziert auf ein Gerippe aus Stahlbeton, ortsunabhängig, serienmäßig und kostengünstig zu produzieren. Diese kleinste Einheit wurde entwickelt, um den Menschen aus ökonomischen und sozialen Abhängigkeiten zu befreien. Mit ihr begann ein additives System, das in der malerischen Zerlegung der Gegenstände einen umgekehrten Spiegel erhalten hat. Der Dynamik der Entwicklung ist die Vorstellungskraft bis heute kaum gewachsen: Kaum drei Schritte vom Dom-Ino-Haus entfernt sausen die gezeichneten Wohntürme einer „Modernen 3-Millionen-Stadt“ (1922) – gut belüftet und beleuchtet – in eine von Hubschraubern umkreiste Höhe.

Lange Jahre malte Le Corbusier von 1931 bis 1965 vormittags in seinem privaten Pariser „Atelier de la Recherche patiente“, während er nachmittags in seinem sechs Kilometer entfernten Architekturbüro arbeitete. Auf dem Papier konnte er Linien und Flächen eine Eigenwilligkeit zugestehen, die Eskapaden aus dem Netz funktionaler Bestimmungen ermöglichte. Formen ließen sich ausprobieren, die als „Raumstruktur“ noch nicht denkbar schienen. Als Maler zog er sich allerdings nach den ersten puristischen Ausstellungserfolgen aus der Öffentlichkeit zurück. Erst rückblickend beschrieb er seine parallelen Aktivitäten als eine „untrennbare Einheit des poetischen Augenblicks, der sich in einer unermüdlichen Schaffenskraft auf der Ebene der visuellen Dinge manifestiert“. Im Entwurf für Algier (1930), der exemplarisch für seine Großstadtprojekte steht, setzt sich die Stadt an der Küste von weitem betrachtet aus Kurven und Schwüngen zusammen, die das Spiel der Wellen und den Rhythmus der Hügel aufnehmen. Doch in der Annäherung erweisen sich die Bänder als übereinandergeschichtete Stadtebenen, deren Einheiten sich wie Waben zum Meer öffnen. Eine Autobahn, in deren Viadukt Wohnungen für 180.000 Menschen eingeplant waren, erscheint uns heute als unglaubliches Zeugnis für das Vertrauen, Verkehr und unmittelbaren Lebensraum verträglich zu verknüpfen. Vor den üppigen Frauenbildern der dreißiger Jahre glaubt man sich einen Moment in eine Picasso- Ausstellung versetzt. Sie aber liefern einen seltsam intimen Begleitakkord zu den Stadtmaschinen. Erstmals scheint die Malerei Le Corbusiers aus dessen Programmatik zu entlassen. In der Rückkehr zur menschlichen Figur sucht er ein entspannteres Verhältnis zur Umwelt zu gewinnen. Fast möchte man spekulieren, daß sich der Architekt in dieser Wiederauflage eines klassischen Themas um die Rückeroberung eines sinnlichen Erfahrungsraumes bemühte, der ihm in der Architektur abhanden zu kommen drohte.

„Die Basis meiner Suche und meines intellektuellen Schaffens hat ihren geheimen Ursprung in der ununterbrochenen Ausübung der Malerei. Das ist die Quelle meiner geistigen Freiheit, meiner Selbstlosigkeit, der Unabhängigkeit, der Loyalität und der Integrität meines Werkes.“ Als sich Le Corbusier in den fünfziger Jahren wieder öffentlich zu seiner Kunst bekannte, hatte der Glaube an eine sozial gerechtere Einrichtung der Welt durch ihre technischen Möglichkeiten seine Brisanz eingebüßt, waren bewohnbare Massenbauten längst zum Standard geworden. Erst als er 1951 an den Entwürfen für die indische Stadt Chandigarh zu arbeiten begann, erfuhren Kunst und Architektur eine neue Annäherung, die sich in der Verwandtschaft von Architekturmodellen und Skulpturen zeigt.

Neben dem rechten Winkel gewann das gerundete Vokabular der sogenannten „akustischen Formen“ an Boden, die wie Echowände den Rhythmus der Elemente aufnehmen und verstärken. Im Holzmodell der „Kapelle Notre-Dame du Haut“ (1951) glaubt man das Raunen des Windes gefangen. Ihr gegenüber steht die Skulptur „Kleine Vertraulichkeit“ (1962): Nur von einem Rahmen gehalten, wachsen dort zwei Köpfe und zwei Hände ineinander, als ob sie zu eigenen Organismen geworden wären, die irgendwo im Wasser treiben. Die anrührende Skulptur hält der gesellschaftlichen Organisationsform der Stadt eine familiäre Geborgenheit entgegen, die sich von ihrer Umwelt losgerissen hat.

Die Plastiken Le Corbusiers führte ein bretonischer Kunsttischler nach seinen Zeichnungen aus. In der Skulptur „Meer“ verschränken sich die Formen von Landschaft, Schaukelpferd und Vogel zu einem spielerischen Balanceakt. Diese Wellen im Blick, spürt man unter den Füßen die Bodenwellen von Friedensreich Hundertwasser, Gestalter und Hauskünstler des Kunsthauses Wien. Seine Sensibilisierung der Wahrnehmung der Besucher beginnt mit diesem unregelmäßigen Boden, der nicht nur ältere Kunstliebhaberinnen ins Stolpern bringt. Täglich werden Busladungen von Touristen und Schulklassen durch das Haus geschleust. Mit der Ausstellung über Le Corbusier – den Künstler –, die das Kunsthaus gemeinsam mit der Pariser „Fondation Le Corbusier“ eingerichtet hat, kann der Wiener Organiker, der mit seinen bewegten Mustern Bilder und Fassaden überzieht, eine prominente Tradition für sich in Anspruch nehmen.

Heute entgeht die Rezeption der Kunstwerke von Le Corbusier kaum dem Schema des Wiedererkennens von Mustern seiner Zeitgenossen – die Bilder erinnern an Braque, Leger und Picasso, die Skulpturen an Arp. Doch wenn er in der Kunst auch nicht den großen Atem der Erneuerung wie in der Architektur bewies, so war sie dennoch sein Ort, um tief Luft zu holen. Zwar vermag der Blick auf seine Kunst das Urteil über den Totalitarismus seiner urbanen Phantasien nur teilweise zu begleichen. Er erzählt aber dennoch vom Empfinden eines Mangels und einer nie restlos befriedigten Suche nach der Versöhnung von Technik und Natur.

Le Corbusier: Eine Retrospektive. Bis 1. Mai 1994 im Kunsthaus Wien. Der Katalog zur Ausstellung ist in Form einer Plakatrolle mit sieben Postern erschienen und kostet 345 ÖS.

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