Tanz um das Feuer mit ungewissem Ausgang

■ Am heutigen „Newroz“ stellt sich wieder die bange Frage, ob das türkische Militär wie in den vergangenen Jahren mögliche Demonstrationen mit Waffengewalt unterdrückt

Heute wird in Kurdistan Newroz gefeiert, das kurdische Neujahrsfest. Die Feiern zum Gedenken an die Befreiung des Volkes vom Tyrannen Dahak vor mehr als 2.600 Jahren sind in den kurdischen Gebieten der Türkei in den vergangenen Jahren immer sehr blutig verlaufen. Die Versuche der Bevölkerung, die Newroz- Feiern zu einem „Serhildan“, einer kurdischen Variante der Intifada, zu machen und Demonstrationszüge zu den Friedhöfen der gefallenen Guerillakämpfer zu organisieren, wurden jedes Mal von den türkischen „Sicherheitskräften“ durch gezielte Schüsse auf die Zivilisten unterdrückt. Dabei gab es auch im letzten Jahr mehrere Tote; ein Jahr davor waren es über 90 gewesen.

Auch 1994 stellt sich wieder die Frage, ob die Militärs mit Waffengewalt vorgehen werden, wenn an einigen Orten der Tanz um das Feuer die Form einer Massendemonstration annimmt. Allerdings ist in den kurdischen Städten nicht mit größeren Demonstrationen zu rechnen, denn der Führer der Kurdischen Arbeiterpartei PKK, Abdullah Öcalan, hat der Bevölkerung empfohlen, ihren Feiertag zu Hause zu begehen und nur am Vorabend Freudenfeuer anzuzünden. Die Mehrheit wird diesen Aufruf befolgen.

Der Vorschlag der türkischen Ministerpräsidentin Tansu Ciller, Newroz zum gesamttürkischen Feiertag zu erklären, wäre geeignet, die Situation zu entschärfen. Allerdings gab es vergleichbare Initiativen auch in den Jahren zuvor – ohne jedoch das Blutbad am Tage der symbolischen Machtprobe zwischen türkischer Armee und kurdischer Guerilla zu verhindern.

Die PKK droht Kandidaten mit „Todesstrafe“

In den Medien wird seit einer Woche versucht, der Bevölkerung die türkische Version von Newroz (im Persischen bedeutet Newroz „Neuer Tag“ oder „Neuanfang“) einzuhämmern. Pantürkische Broschüren werden zitiert, und ein Wissenschaftler aus Aserbaidschan darf im Fernsehen den Türken erzählen, was sie bisher über ihre eigene Geschichte nicht wußten. Die kurdische Version von Newroz wird dabei von den Kolumnisten als Propagandatrick der Separatisten „entlarvt“.

Wie ernst der türkische Staat es mit seiner neuen Erkenntnis meint, zeigt die Tatsache, daß in allen weiterführenden Schulen – zumindest in Istanbul – laut Anordnung der Schulämter die Pausen dazu genutzt werden müssen, um über Lautsprecher den SchülerInnen die Idee hinter Newroz zu erläutern. Trotzdem bleibt die Lage in den kurdischen Gebieten, vor allem in der heimlichen Hauptstadt Diyarbakir, äußerst gespannt. Und das hat nicht nur mit den blutigen Erfahrungen der vorangegangenen Jahre zu tun. Nach Batman ist Diyarbakir die Stadt mit der höchsten Rate an „unaufgeklärten“ Morden; allein im letzten Monat wurden in dieser Stadt 28 Menschen auf offener Straße erschossen, wahrscheinlich von den Todesschwadronen der „Kontra- Guerilla“. Dazu kommen weitere Morde durch die PKK, die mit ihrer Ankündigung eines aktiven Boykotts der Kommunalwahlen am 27. März die Drohung verknüpft hat, daß alle KandidatInnen der bürgerlichen Parteien, die sich nicht zurückziehen, „bestraft“ werden – womit die „Todesstrafe“ gemeint ist. Da ist es kein Wunder, daß am gestrigen Sonntag weniger Menschen auf der Straße zu sehen waren als sonst.

Auffallend jedoch ist die hohe Zahl von ausländischen Beobachtern: Journalisten, Politiker und Vertreter kleinerer und größerer Organisationen. Mehr als 300 sollen es sein. In Diyarbakir hat man sich bei diesem Ansturm mit verstärkten Sicherheitsmaßnahmen am Flughafen begnügt. Aber in Van wurden 59 ausländische Beobachter erst gar nicht aus dem Flughafengebäude gelassen und mußten wieder nach Ankara zurückkehren.

Die Präsenz der Delegationen dürfte im Fall von provozierter oder unprovozierter Gewalt wohl kaum einen Schutz für die Bevölkerung darstellen; doch sie könnte immerhin dazu dienen, im Westen über die Lage, die Leiden des kurdischen Volkes, Öffentlichkeit herzustellen. Helmut Oberdiek, Diyarbakir