: Sensibel: Andras Schiff in der Musikhalle Vom Strichmann zum Kosmos
■ Welt ist immer noch nicht zu fassen, nicht in Enzyklopädien und auch nicht auf CD-Rom: Matt Mullican im Kunstverein
Die alten Wunderkammern waren voll mit schönen Naturalien und erbaulichen Kunststücken, 400 Jahre später sind die Elfenbein-drechseleien durch Video und Computer ersetzt, der Gestus des Klassifizierens aber ist geblieben. Seine eigene Weltordnung präsentiert jetzt der New Yorker Künstler Matt Mullican mit ungeheurer Materialfülle im Kunstverein.
In provokativem Design locken hinter der Glasfassade schwarze Pictogramme in weißem Feld auf rotem Grund in eine Einzelausstellung, die zeigt, wie jemand mit Bezug zur Geschichte und durch eigene Geschichten sich die Welt neu erfindet. Von Strichmännchen zu kosmologischen Systemen, von herausgerissenen Zeitungsfotos zu dreidimensionalen Computersimulationen kompiliert da ein freundlicher 43jähriger Amerikaner seine Bibel zur Welterklärung. 449 Magnesium-Metalltafeln und eben soviele Papier-Abklatsche im unendlich erscheinenden, etwas im Dämmer belassenen Zentralgang der Ausstellung demonstrieren die Abbildungseiten einer alten Enzyklopädie und verweisen auf das heroische Scheitern solch additiver Erfassungssysteme, egal ob in alten Drucktechniken oder neuestens auf CD-ROM.
Wirkkräfte zwischen Erde und Mensch, Himmel und Hölle faßt Mat Mullican in gußeiserne Symbole und stellt sie neben einen gefundenen Generator. So zeigt sich das Verhältnis von Idee und Energie konkreter, spröder und weniger mystisch als Joseph Beuys denselben Gedanken ausformen würde. Auch Matt Mullican ist ein überzeugender Erzähler seiner Welt und intensiver Performance-Künstler. Videos dokumentieren beispielsweise eine seiner Aktionen unter Hypnose. Eine weiße Linie trennt den Raum in zwei Zeiten: Auf der einen Seite ist Matt Mullican der bekannte Künstler, auf der anderen Seite der Zeitlinie tritt er in den Raum der Kindheit, zeichnet und verhält sich wie ein Fünfjähriger.
Mit Empathieversuchen begann der Legende nach seine ganze Arbeit: Er zeichnete Strichmännchen, und wollte sich in die Haltungen der so ganz unsinnlich abstrakten Figuren einfühlen. Heute ist ein zentrales Ordnungsschema Matt Mullicans sein Farbsystem: Grün steht für die reine Präsenz des Materials (Natur), Blau ist die unklassifizierte soziale Welt, gelb die demonstrierte Welt (Stil), schwarz das Symbol (Sprache) und rot die abstrakte Bedeutung (Kopf). In solche Farbräume sind die ausgeliehenen Objekte aus dem Biologischen Museum gefaßt, in diesen Farben ist die zentrale Werkgruppe der Architekturentwürfe gehalten. Diese Cyberspace-perfekten, leeren und letztlich menschenfeindlichen Stadtentwürfe sind eher vieldeutige Graphiken als zu bauende Architektur. Sie sind materialisierter Ausdruck einer Ordnungsidee, wie die nie vollendeten Idealstädte der Renaissance, des Absolutismus und der Revolution oder die buchillustrierenden, exakten Grundrisse von Sonnenstaat und Utopia.
Matt Mullican zeigt einen komplexen Diskurs über Form und Inhalt von Weltaneignung, der die Unmöglichkeit seines totalen Anspruchs bereits transportiert. Es ist wieder eine der zum Stil des Kunstvereins gewordenen, auf den ersten Blick spröden Ausstellungen, deren besondere Bedeutung sich mit viel Zeit und Mitdenken erschließt.
Hajo Schiff Kunstverein, Klosterwall 23, bis 1.Mai; Kaspar König „Matt Mullican“, 120 Mark, Mai 36-Galerie, „M. Mullican“, 20 Mark
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