: Der Ritt auf dem Joghurtbecher
■ Die Welt der Männer, die sich auf ihren „heißen Ofen“ schwingen, „ist enorm libidobefrachtet“, sagt ein Pfarrer / Für Frauen gibt es jetzt ein leichtes „Damenmodell“
Wenn's warm wird, donnern sie auf ihren Hobeln, Hirschen und Böcken über den Asphalt. In hautenger Lederkluft und mit flatterndem Haar thronen sie wie „Kings“ auf ihren Höllenschlitten, drehen den Gashebel bis zum Anschlag auf und sind im Nu auf 260 Sachen.
Kaum ein Sport ist so klischee- und mythenbefrachtet wie das Motorradfahren. In der absoluten Mehrzahl sind es immer noch die Männer, die sich auf den schweren Maschinen abreagieren. Aber die Frauen sind auf dem Vormarsch. Seit 1984 hat sich ihr Anteil immerhin von 8 auf 12,6 Prozent erhöht. Sehr zur Freude der Industrie, die sogleich ein leichtes, aber schnelles Damenmodell auf den Markt brachte. Zu besichtigen ist es heute und morgen in den Messehallen unterm Funkturm bei den „Motorrad Tagen“.
In Berlin waren Ende vergangenen Jahres 41.193 Maschinen über 80 Kubik zugelassen, 14.832 waren stillgelegt. Vor allem in den neuen Bundesländern boomt das Geschäft. Marktführer in Deutschland sind die Japaner: Suzuki, Yamaha, Honda und Kawasaki teilen sich vier Fünftel des Kuchens. Der Rest geht an BMW und ein winziges Stückchen an die MZ-Werke in Zschopau. Fabrikate wie die italienische Moto Guzzi sind Außenseiter. BMW- oder Motto-Guzzi- Fahrer belächeln die plastikummäntelten japanischen Motorräder abfällig als „Joghurtbecher“. Suzuki-Fans wiederum würden um keinen Preis der Welt freiwillig auf einen „Toaster“ (BMW K 75 oder K 100) klettern.
1993 kamen in Berlin elf Motorradfahrer und Mitfahrer ums Leben, alles Männer zwischen 25 und 35 Jahren. 223 Personen wurden schwer verletzt, und 1.493 Menschen kamen mit leichten Blessuren davon. In den Sommermonaten Juni bis September kracht es am häufigsten. Im Vergleich: Vor der Maueröffnung sind die Unfälle in Berlin zurückgegangen. „Das liegt wohl daran, daß die meisten Motorradfahrer die Stadt verlassen“, vermutet Hauptkommissar Lutz Sliwinski, der als Mitglied der Polizei-Motorradstaffel auf einer 1.000er BMW unterwegs ist.
Motorradfans müssen sich die Sporen für die Fahrerlaubnis für schwere Maschinen über 27 PS erst verdienen. Wer innerhalb von zwei Jahren 4.000 Kilometer mit einem Motorrad der Führerscheinklasse 1a zurückgelegt hat, bekommt die 1er-Pappe gratis. Um so teurer ist für Anfänger die Versicherung: monatlich 500 Mark.
Auch wenn immer mehr Manager und Beamte auf einen heißen Ofen steigen, ist die Szene doch von Arbeitern und einfacheren Leuten dominiert. Der langjährige Motorrad-Pfarrer der evangelischen Kirche, Bernd-Jürgen Hamann, der früher auch Rocker betreute, spricht von der „lower middle class“. Alljährlich zu Saisonbeginn veranstalten die katholische und evangelische Kirche gemeinsam einen Gottesdienst für Motorradfahrer. Das sogenannte „Anlassen“ findet am Sonntag um 14 Uhr in der St.-Peter-und-Paul- Kirche in Nikolskoe statt. Der Saisonabschluß im Herbst wird wechselweise im Dom und in der St.- Hedwigs-Kathedrale zelebriert. Auf dem Vorplatz der Kirche versammeln sich dann bis zu 10.000 Motorradfans. An den Wochenenden im Sommer ist die sogenannte Spinner-Brücke an der Avus-Ausfahrt Nikolassee Treffpunkt. Dort werden die neuen Modelle begutachtet, an der Pinnwand neben der Imbißbude floriert der Ersatzteilemarkt. Im Augenblick ist an der Spinnerbrücke aber noch nichts los. „Da treffen sich jetzt nur die ganz harten Hunde“, so ein Polizist des zuständigen Verkehrsabschnitts.
Die harten Hunde oder „richtigen Fahrer“, wie der 52jährige Pfarrer Hamann, stolzer Besitzer einer BMW K 100, zu Leuten wie sich selbst sagt, fahren auch im Winter. Im Sommer legen sie in Europa Tausende von Kilometern auf schwierigster Piste zurück. Peter Fonda in dem Hippie-Kultfilm Easy Rider ist für diese hartgesottenen Typen kein Vorbild. „Der ist doch der klassische Sonntagsfahrer“, gibt sich Hamann entrüstet. Was die Faszination ausmacht? „Die Welt der Motorradfahrer ist enorm libidobefrachtet“, erfährt der Pfarrer immer wieder. Für viele sei der Ritt auf dem Bock die reine Aggressionsabfuhr, andere würden von schweren Depressionen in den Geschwindigkeitsrausch getrieben. Dritte litten unter einem Mangel an Autoerotik. Zu letzteren zählt Hamann die Bastelfreaks, die ihre Wohnungen mit Motoren und Getriebe vollstopfen und ölverdreckt in eine Disco gehen, in der Annahme, die Frauen würden auf so einen Kerl geradezu fliegen. Letztlich geht es bei allen jedoch nur um eins: „Den Männlichkeitswahn ausleben.“ Plutonia Plarre
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