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„Was geht mich das an“-Mentalität greift um sich

■ Der Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Grüne, Wolfgang Wieland, hat nicht erwartet, daß sich mehrere tausend Berliner an der Mahnwache am vergangenen Samstag beteiligen

Der Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Grüne, Wolfgang Wieland, beteiligte sich am vergangenen Samstag an der Schweige-Viertelstunde vor der Jüdischen Gemeinde in Charlottenburg. Gekommen waren über 1.000 BerlinerInnen, gemessen an der Zahl von 3,6 Millionen Einwohnern, eine sehr geringe Beteiligung. Dazu ein Gespräch mit Wieland.

taz: Nach dem Anschlag auf die Lübecker Synagoge haben alle im Abgeordnetenhaus vertretenen Parteien und verschiedenen Verbände zu einer Mahnwache vor der Jüdischen Gemeinde in der Fasanenstraße aufgerufen. Finden Sie es alarmierend, daß nur 1.000 Menschen zu dieser Gedenkveranstaltung erschienen sind?

Wolfgang Wieland: Es hat mich gefreut, daß so viele Menschen gekommen sind. Zwar zeigte sich die Witwe von Heinz Galinski enttäuscht über die Besucherzahl, doch ich empfand die Veranstaltung nicht als peinlich. Nach der sehr kurzen Mobilisierungszeit mußte man einfach damit rechnen, daß nicht alle Berlinerinnen und Berliner von der Veranstaltung Kenntnis genommen haben. Am ersten Tag der Osterferien waren sicherlich auch einige schon nicht mehr in Berlin.

Gerade bei Demonstrationen gegen den Krieg in Bosnien hat sich schon vielfach ein sehr geringes Interesse gezeigt. Gestern waren sich jedoch viele der Bedeutung des Brandes einer Syngagoge in Deutschland bewußt. Mehrere zehntausend Menschen für eine Demonstration wie beispielsweise bei der Veranstaltung gegen Fremdenhaß mit Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zu gewinnen gelingt meist nur nach einer wochenlangen Kampagne.

Sind Sie der Auffassung, daß die Bevölkerung gleichmütiger auf solche und ähnliche Anschläge reagiert?

Nach Hoyerswerda dauerte es immerhin ein Jahr, bis die Menschen begannen, in Lichterketten auf die Straße zu gehen. Erst dann wachte die Bevölkerung auf, und ich bekam langsam wieder das Gefühl, daß es für mich lebenswert sei, in diesem Land zu wohnen. Die Gesellschaft ist mit zunehmender Individualisierung auch passiver geworden. Eine „Was geht mich das an“-Mentalität greift immer mehr um sich. Diese Individualisierung führt zu einer Entsolidarisierung der gesamten Gesellschaft.

Was haben andere TeilnehmerInnen bei der Mahnwache dazu für Gefühle geäußert?

Der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde, Cakmakoglu, sprach von einer wachsenden Bedrohung von rechts. Das Ausbleiben bekanntwerdender Anschläge dürfe nicht dazu führen, sich in Sicherheit zu wiegen. Die Anschlagserie von Hoyerswerda bis Solingen hat zu einer Solidarisierung der in Berlin lebenden ausländischen Gruppen untereinander und mit der Jüdischen Gemeinde geführt. Sie fühlen, daß sie im gleichen Boot sitzen.

Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit werden aus derselben Quelle gespeist. Auf der Grundlage irrationaler Vorstellungen von einer sauberen Nation und Fanatismus verbrüdern sich alte und neue Nazis.

Welches waren Ihre persönlichen Gründe, an der Gedenkveranstaltung teilzunehmen?

Eine Schweigeveranstaltung, das heißt das Verbot zu quatschen, erschien mir der richtige Anlaß, meinem Entsetzen Ausdruck zu verleihen. Gerade dann, wenn in Deutschland wieder eine Synagogen brennt, ist es wichtig, mit den jüdischen Mitbürgern Solidarität zu zeigen. Für die Jüdische Gemeinde ist es schon ein Normalzustand, ständig unter Polizeischutz zu stehen oder am Telefon belästigt zu werden. Gerade auch deshalb ist jetzt diese Geste notwendig, um den jüdischen Mitbürgern das Gefühl zu geben, nicht alleine gelassen zu werden.

Interview: Christine Schiffner

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