Kommunisten und Nationalisten vorn

Unerwartet hohe Wahlbeteiligung in der Ukraine / Zweiter Wahlgang am 10. April / Funktionsfähiges Parlament noch nicht sicher / Direktmandat für Ex-Premier Kutschma  ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath

Die Ukrainer scheinen nicht so politikmüde, wie zahlreiche politische Verantwortungsträger es ihnen in den letzten Wochen nachsagten. An die 67 Prozent der Wähler beteiligten sich am Urnengang. Ergebnisse brachte die erste Tour der Parlamentswahlen hingegen noch nicht. Nur wenige Kandidaten erreichten auf Anhieb die erforderliche Mehrheit. Ein zweiter Wahlgang soll am 10. April folgen. Zu den Gewinnern der ersten Runde zählen die bekanntesten Politiker aus den unterschiedlichsten politischen Lagern. 91 Prozent der Stimmen vereinigte der ehemalige Premier Leonid Kutschma auf sich. Er gilt als aussichtsreicher Herausforderer Präsident Leonid Krawtschuks bei den für Juni geplanten Präsidentschaftswahlen. Kutschmas Wahlkreis liegt in der Tschernichiw-Region an der Grenze zu Rußland. Er vertritt den erst kürzlich gegründeten „Überregionalen Block“. Eine Oppositionsbewegung, die in den vergangenen Monaten erheblich an Einfluß gewonnen hat. Den nationalistisch gesinnten Kreisen ist der Pragmatiker aus dem militärisch-industriellen Komplex wegen seiner rußlandfreundlichen Haltung seit jeher ein Dorn im Auge.

Den sofortigen Sprung schafften auch Viktor Pynsenik und Wolodimir Lanowiy. In seiner Funktion als Vizepremier zeichnete Pynsenik verantwortlich für die Wirtschaftsreformen bis Juni 1993. Lanowoy schied damals ebenfalls aus dem Kabinett aus und leitet heute ein Consulting-Institut für marktwirtschaftliche Reformen in Kiew. Auch der kommunistische Parlamentsvorsitzende Iwan Pljuschtsch schaffte den direkten Sprung ins Parlament. Als Vorsitzender der Legislative setzte er mehrfach an, Präsident Krawtschuk in die Knie zu zwingen und die Macht sukzessive dem Parlament zu übertragen. Seine Strategie ging in vielen Bereichen auf. Allerdings lehnte Pljuschtsch — hierin mit Krawtschuk einig — die Parlamentsneuwahlen entschieden ab. „Es ist beeindruckend, daß Leute, die dem Parlament nicht vertrauten, trotz allem zur Wahl gegangen sind“, kommentierte der Berater Krawtschuks, Mikola Michhalenko, die hohe Wahlbeteiligung. „Wenn die Wahlen hätten für ungültig erklärt werden müssen, wäre das eine direkte Bedrohung der staatlichen Existenz der Ukraine gewesen“, fügte er hinzu.

Andererseits schien man im Präsidentenlager auf eine schlechte Wahlbeteiligung gebaut zu haben. Darüber hinaus hatte das Parlament mit dem hochkomplizierten Wahlprozedere dieser Entwicklung bereitwillig Vorschub geleistet. Sollte die erforderliche Zweidrittelmehrheit der Mandate nicht zustande kommen, hatte Krawtschuk noch am Freitag angekündigt, sähe er sich gezwungen, per Präsidialdekret zu regieren. In diesem Falle würde er die für Juni vorgesehenen Präsidentenwahlen verschieben, ebenso die Wahlen zu den lokalen Verwaltungen. Er könne ein „Machtvakuum“ in der Ukraine nicht zulassen.

Auch für den nächsten Wahlgang wird die im Wahlgesetz vorgeschriebene Mindestbeteiligung von 50 Prozent nicht aufgehoben. Noch ist daher nicht gesagt, ob tatsächlich ein funktionsfähiges Parlament zustande kommt.

Die hohe Wahlbeteiligung zeigt hingegen, daß die Bürger die Hoffnung auf eine Veränderung noch nicht ganz aufgegeben haben. Die miserable wirtschaftliche Lage hat sie nicht davon abgehalten, politisch überlegt zu handeln. Wer die ökonomische Talfahrt verursacht hat, weiß man in der Ukraine ohnehin. Weder das alte Parlament noch Präsident oder Regierung haben Anstrengungen unternommen, Reformen auf den Weg zu bringen. Teils aus Unwillen, teils aus Unfähigkeit. Nachbar Rußland lebt jetzt besser als die Ukraine, die früher von sich behauptete, die ganze UdSSR zu subventionieren. Für die ukrainischen Nationalisten blieb dies nicht folgenlos. Auch sie stehen vor einem Glaubwürdigkeitsverlust.