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Die Schminke wird abblättern

In Kurdistan und den großen Städten der Türkei könnten demnächst die Islamisten regieren.

Bis gestern nachmittag stand nicht fest, wer der nächste Oberbürgermeister der Zehn-Millionen-Stadt Istanbul werden wird. Nur 50 Prozent der Stimmen waren bis dahin ausgezählt. Es gab ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen dem Kandidaten der Mutterlandspartei (Anap), Ilhan Kesici, und dem islamistischen Kandidaten der Wohlfahrtspartei (RP), Tayyip Erdogan. Eins jedoch stand schon gestern fest: Nach den türkischen Kommunalwahlen vom letzten Sonntag wird der Bezirk Beyoglu künftig von einem fundamentalistisch-islamischen Bürgermeister regiert werden.

Und Beyoglu ist nicht irgendein Bezirk. Beyoglu ist ein Symbol. Der Stadtteil ist das kulturelle Herz nicht nur Istanbuls, sondern der Türkei. In Beyoglu sind die Theater. In Beyoglu ist Shakespeare, Molière, Brecht und Peter Weiss. In Beyoglu beginnen in einer Woche die internationalen Filmfestspiele, deren Renommee von Jahr zu Jahr zugenommen hat. In Beyoglu sind Eisenstein und Fellini, die größten Konzertsäle der Türkei sind in Beyoglu. Wie auch die Galerien, die Ausstellungen moderner türkischer Kunst. In Beyoglu wird in verrauchten Kellern Jazz gespielt, hier ist die Schwulenszene zu Hause. In Beyoglu machten türkische Feministinnen Dampf. – Nicht erst seit Gründung der türkischen Republik, sondern schon zur Zeit des Osmanischen Reiches war Beyoglu ein kosmopolitischer Ort.

Am Sonntag ist Beyoglu ins finstere Mittelalter zurückgestoßen worden. Der neue Bürgermeister von Gottes Gnaden wird einen erbarmunglosen Feldzug gegen die Kultur schlechthin führen: gegen die „entartete“ Kunst, gegen „entartete“ Musik – ja gegen die „entarteten“ Menschen. Die Schminke der Toleranz, die sich die Islamisten im Wahlkampf aufgelegt hatten – ein paar Parteimitgliederinnen ohne Kopftuch wurden der Presse präsentiert –, wird schnell abblättern.

Noch vor wenigen Tagen gab es in Beyoglu einen gespenstischen Umzug. In den ersten Sonnenstrahlen des Istanbuler Frühlings marschierten grauschwarze Männer mit Fahnen der Wohlfahrtspartei, tief verschleierte Frauen und in warmen Kleidern eingehüllte Mädchen im Vorschulalter trotteten hinterher.

Mobilisiert haben die Islamisten in den Slums von Istanbul. Ihre Basis sind weder Städter noch Bauern, sowohl die Stadt als auch das Dorf haben eine gesellschaftliche Ordnung. Doch Millionen Istanbuler sind von der Stadt ausgegrenzt: Arbeitslose, die in selbstgebauten Baracken an den Rändern der Stadt leben. Die Wohlfahrtspartei verspricht den Entwurzelten, die weder Theater, Kino noch Konzert kennen, das Glück in der bösartigen, neuen Umgebung, die sich Stadt nennt.

Die Stadt am Bosporus mit ihrer 3.000jährigen Geschichte war den Islamisten schon immer ein Dorn im Auge. Um Wahlstimmen zu fangen, setzen die islamistischen Kommunalpolitiker hemmungslos die künftige Existenz der Metropole in Frage. In Istanbul ist Trinkwasser extrem knapp. Bereits in der Vergangenheit haben islamistische Bezirksbürgermeister in Wasserschutzgebieten illegale Siedlungen ohne Kanalisation gefördert. Das Wasser wird verseucht, eine Umweltkatastrophe droht. Doch was zählt die Verseuchung von Wasser auf dem Weg zur Macht?

Der Erfolg der Islamisten unter Führung von Necmettin Erbakan ist gewaltig. Landesweit ist die Wohlfahrtspartei zur drittstärksten Partei geworden. Bei den Kommunalwahlen 1989 erhielt die Partei 9,7 Prozent der Stimmen. Am vergangenen Sonntag votierten rund 17 Prozent der Wähler für die Wohlfahrtspartei. Temel Karamollaoglu, der Bürgermeister von Sivas, ist wiedergewählt worden, jener Brandstifter, der am 2.Juli 1993 den Mob gegen eine Konferenz türkischer Intellektueller aufhetzte und die Verantwortung für 36 Tote und 60 zum Teil Schwerverletzte trägt.

in Kurdistan erwiesen sich die Islamisten stärker als die seit 1984 bewaffnet kämpfende PKK. Nur teilweise befolgten die Kurden den von der PKK empfohlenen Wahlboykott oder stimmten ungültig. Mehrheitlich wurde gewählt. In nahezu allen kurdischen Städten wird demnächst ein Mann der Wohlfahrtspartei regieren. Beachtlich auch die Stimmengewinne für die faschistische MHP (Nationalistische Aktionspartei), deren Graue Wölfe in den siebziger Jahren Angst und Schrecken verbreiteten. Sie haben landesweit acht Prozent der Stimmen eingefahren.

Die schlimmste Niederlage mußten die Sozialdemokraten einstecken. Die Sozialdemokratische Volkspartei, Koalitionspartner der Regierung Ciller, erhielt nur 12 Prozent der Stimmen. Bei den Kommunalwahlen 1989 waren es 28,6%. Es ist das schlechteste Ergebnis für die Sozialdemokratie in ihrer Geschichte. Der allseits erwartete Sprung nach vorn durch die rechtsliberale Mutterlandspartei (Anap), die stärkste Oppositionspartei im Parlament, blieb aus. Die Anap erhielt landesweit rund 21 Prozent – bei den Parlamentswahlen 1991 hatte sie 24 Prozent erhalten. Auch die regierende „Partei des rechten Weges“ unter Ministerpräsidentin Tansu Ciller hat Verluste. Bei den Parlamentswahlen erhielt sie 27 Prozent der Stimmen. Diesmal votierten rund 24 Prozent der Wähler für sie. Verglichen mit der Mutterlandspartei, die trotz ihrer Stellung als Oppositionspartei Rückschläge erlitt, und den niederschmetternden Ergebnissen für die Sozialdemokraten, hielt sich die „Partei des rechten Weges“ stabil.

Doch abgesehen von der islamistischen Wohlfahrtspartei sind die Wahlen ein Schlag ins Gesicht aller Parteien. Die Wahlparole Necmettin Erbakans, daß die Wohlfahrtspartei die einzige Alternative zum System sei, hat sich bewährt. Erbakan fordert bereits Neuwahlen. Doch mit wenig Aussicht auf Erfolg. Vorläufig wird die jetzige Regierungskoalition weiterregieren.

Demokratie war nie die Stärke der Herrschenden in der Türkei. Schon zeigen sich sich bei den „staatstragenden“ Politikern und den Generälen erste Anzeichen eines Algerien-Syndroms. Sollten die Islamisten tatsächlich die Oberbürgermeisterwahlen in Ankara und Istanbul gewinnen, ist nicht auszuschließen, daß wegen kleinerer Wahlbetrügereien Neuwahlen in diesen Städten angeordnet werden. Die relative Mehrheit reicht für die Wahl des Oberbürgermeisters. In Istanbul reichen bereits 24 bis 25 Prozent der abgegebenen Stimmen.

Bei Neuwahlen hätten die Islamisten keine Chance, weil der bürgerliche Block für den aussichtsreichsten Kandidaten stimmen würde. Die herrschende Staatsideologie – die Militärs formen sie entscheidend mit – hat die Islamisten in den Großstädten im Westen des Landes zur Bedrohung der Republik erklärt, während unter der Hand in den kurdischen Regionen das repressive Vorgehen der Militärs zum Sieg der Wohlfahrtspartei beitrug. Die Lichter Kurdistans waren bereits vor den Wahlen ausgegangen. Nach Anbruch der Dunkelheit gehörten die Städte den Killerkommandos der Todesschwadronen, die kritische Kurden umbrachten. Nun gehen auch die Lichter im Istanbuler Stadtteil Beyoglu aus. Ömer Erzeren, Istanbul

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