Nie wieder gutzumachen

■ Besuch der "Arbeitsgemeinschaft Sachsenhausen" im Lichtenberger Gefängnis / Für viele war es Durchgangsstation zum Lager, in dem sie von 1945 bis 1950 interniert waren

„Werden wir jetzt gefilzt?“ ruft einer vorlaut und unterbricht die Beklemmung. Gerade hat sich die Eingangstür hinter den 15 Personen geschlossen. Eng gedrängt stehen sie im Vorraum und warten darauf, daß sich die erste der beiden Gittertüren öffnet. Das Gefängnis in der Lichtenberger Magdalenenstraße ist zwar derzeit nicht in Betrieb, aber wer hinein will, muß trotzdem durch die Sicherheitsschleuse.

„Daß ich das hier noch einmal zu sehen bekomme, hätte ich nicht gedacht“, sagt Heinz Schalow. Die Nacht zuvor hat er kaum geschlafen. 1945 war er „14 Tage oder drei Wochen“ hier inhaftiert, bevor der Fünfzehnjährige wegen Werwolf- Verdacht in das Lager Sachsenhausen kam. Das ehemalige Konzentrationslager wurde seit August 1945 vom sowjetischen Geheimdienst NKWD als Internierungslager genutzt. Auch das Lichtenberger Gefängnis war damals unter russischer Hoheit. Erst 1954 wurde es an die Deutschen übergeben und diente später als Gefängnis für die Stasi.

Weil demnächst die Umbauarbeiten beginnen – das Gebäude soll in etwa zwei Jahren wieder als Gefängnis genutzt werden –, wollte die Arbeitsgemeinschaft Sachsenhausen die letzte Gelegenheit nutzen, um das Haus noch im alten Zustand zu besichtigen. „Ich kann mich noch genau erinnern, an die Netze, die schmalen Gänge“, sagt eine weißhaarige Dame, als die Gruppe im Flur steht. In den Gitternetzen, die in jedem Stockwerk den Freiraum vom Gang zur Wand überspannen, hat sich abgeblätterter Putz verfangen. Überall pellt sich der cremefarbene Anstrich von den Wänden. Nur wenig Licht dringt von draußen in die langen Flure. Die Zellen mit dem fleckigen, roten Fußboden sind winzig. „Einmannzellen“, sagt der Wachmann und wird umgehend korrigiert. „Sie dürfen nicht vergessen, daß die mit vier bis fünf Leuten belegt waren“, sagt Kurt Hanjor. „Da standen dann dreistöckige Pritschen und Klappbetten drin. Damals gab es auch keine Waschbecken, sondern Tonkrüge mit Wasser und Holzkübel für die Notdurft.“ Ausgelegt war das Gebäude für 150 bis 200 Häftlinge.

„Meine Zelle war im vierten Stock“, sagt Jutta von Willich, aber das Treppensteigen ist für die zierliche alte Dame zu beschwerlich. Während ein paar nach oben gehen, wartet sie unten im Gang. Als junge Sekretärin war sie von 1939 bis 1945 beim Oberkommando der Wehrmacht dienstverpflichtet. Sie sortierte Briefe aus dem Ausland für die Zensur aus. „Sehen Sie sich unbedingt ,Schindlers Liste‘ an“, sagt sie der Reporterin, „dann sehen Sie, wohin das geführt hat mit den Nazis.“

Neben ihr steht Lottchen Fischer, die zweite Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Sachsenhausen, auf ihre Krücke gestützt. „Die jüngsten, die verhaftet wurden, waren 14“, sagt sie. Sie selbst kam mit 23 nach Sachsenhausen. Als 13jährige war sie dem Bund Deutscher Mädchen beigetreten. „Ich war nie Werwolf“, sagt sie. Nur „unter Zwang“ habe sie nach ihrer Verhaftung ein entsprechendes Geständnis unterschrieben.

Die Zustände im Gefängnis Lichtenberg kennt sie nur aus den Erzählungen einer Freundin. Die erzählte ihr von einem Mann, der jede Nacht aus der Zelle geholt wurde, tanzen und singen mußte und dabei geschlagen wurde. Und von einer Frau, deren Kleider in ihre frühere Zelle geworfen wurden. Die brauche sie jetzt nicht mehr, habe es geheißen.

Allerdings, merkt Hans-Jörg Leyser an, habe es nie Beweise dafür gegeben, daß hier Häftlinge hingerichtet wurden. Der 66jährige wurde im Oktober 1945 ebenfalls unter Werwolf-Verdacht verhaftet und zu 15 Jahren Haft verurteilt. Werwölfe hießen die Untergrundtrupps, die Reichs-SS-Führer Himmler seit dem Herbst 1944 aufzubauen versucht hatte – allerdings mit wenig Erfolg. Nach dem Krieg wurden in allen vier Besatzungszonen Tausende von Jugendlichen als tatsächliche oder vermeintliche Werwölfe interniert.

Der 17jährige Leyser, der Mitglied der Hitlerjugend war, geriet in Lichtenberg aus Versehen auf die „Todesstation“ im zweiten Stock. Er erinnert sich an einige Generäle und einen Marineadmiral, die hier einsaßen. „Die wurden täglich zusammengeschlagen“, sagt er. „Ansonsten haben sie darauf gewartet, daß in Moskau über ihre Gnadengesuche entschieden wurde. Das konnte dauern.“ Insgesamt sei er nur zwei Wochen in Lichtenberg gewesen, aber „die hatten's in sich“.

„Strafgefangener Heinz, kommen Sie runter“, brüllt Lottchen Fischer im Kommandoton. „Sie wollen sich doch da oben nicht einquartieren!“ Alles wartet auf das Grüppchen, das im vierten Stock verschollen ist. Derweil filmt die 71jährige mit ihrer Videokamera eine der Zellen.

„Ich habe meine Zelle gefunden!“ sagt Heinz Schalow. Im Innenhof zündet er sich eine Zigarette an. Er zeigt auf die oberste Fensterreihe. „Wir waren 40 Mann auf 20 Quadratmetern. Bis auf einen schmalen Gang war alles mit Pritschen zugebaut. Umgedreht haben wir uns immer auf Kommando“, sagt er und erzählt von den Hungerrationen. „Das Schlimmste war das Essen. Drei dicke, steinharte Scheiben Kommißbrot und dazu ein Viertelliter Tee. Wir waren schon völlig abgemagert, als wir in Sachsenhausen ankamen.“ Der weißhaarige Mann mit dem zerfurchten Gesicht zündet sich noch eine Zigarette an. Als Neunjähriger war er ins Deutsche Jungvolk eingetreten. Da gab's „viel Sport, viel Wandern“ und, wie er auf Nachfrage einräumt, „viel Ideologie“. Trotzdem, er könne da „nur Gutes drüber sagen“.

Von der antisemitischen Indoktrination scheint etwas hängengeblieben zu sein. Später beim Kaffeetrinken witzelt einer, der in der ehemaligen jüdischen Baracke untergebracht war: „Ich hatte noch jüdische Wanzen.“

Sowas dürfe man eigentlich nicht sagen, räumt Lottchen Fischer später ein. Sie ist „erschüttert, daß sie jetzt wieder eine Synagoge angezündet haben“. In Sachsenhausen habe sie sich damals gefragt, „wie wir so verblendet sein konnten, hinter diesem Mann herzulaufen, der nicht mal ein Deutscher war“. Und dann sagt sie: „Wir haben dafür bezahlt, aber das ist eine Schuld, die nie wieder gutzumachen ist.“ Dorothee Winden