„Der Kapitän wird über Bord geworfen“

■ Die Zustimmung zum EU-Veto-Kompromiß könnte John Major sein Amt kosten

London (taz) – John Majors Tage sind gezählt. Der britische Premierminister hat sich nach dem Tauziehen um die Sperrminorität im Europäischen Ministerrat selbst in der eigenen Partei viele Sympathien verscherzt. Sein Versuch, den Kompromiß – die für ein Veto notwendige Stimmenzahl wird nach der EU-Erweiterung um vier auf 27 Stimmen erhöht – als Sieg zu verkaufen, scheiterte kläglich. Major hatte behauptet, der Europäischen Kommission das Zugeständnis abgerungen zu haben, daß keine Direktiven im Sozialbereich per Mehrheitsentscheidung verabschiedet werden. Kommissionspräsident Jacques Delors bestritt jedoch umgehend, daß dieses Thema überhaupt angesprochen worden sei.

So wurde die Unterhausdebatte am Dienstag, Majors 51. Geburtstag, zu einer Demütigung für den Premierminister. Der Vorsitzende der Liberalen, Paddy Ashdown, sagte: „Keine Verbalgymnastik kann darüber hinwegtäuschen, daß die Regierung Großbritannien zum Gespött in Europa gemacht hat.“ Der Tory-Hinterbänkler Tony Marlow forderte sogar Majors Rücktritt. „Sie haben keine Autorität, Glaubwürdigkeit oder erkennbare Politik auf diesem Gebiet“, warf er dem konsternierten Major an den Kopf. „Warum machen Sie nicht den Weg frei für jemanden, der unserer Partei und unserem Land eine Richtung geben kann?“ Später fügte er hinzu: „Major ist politisch tot.“

Es ist gar nicht so sehr die Tatsache, daß Major in der Frage der Sperrminorität nachgegeben hat, sondern sein miserables Urteilsvermögen, das ihn für immer mehr Torys untragbar macht. Der Streit war nämlich völlig unnötig. Niemand hatte von ihm verlangt, die Frage der Abstimmungsregeln zum Prinzip zu erheben. Major wollte sich mit seinem anti-europäischen Getöse lediglich beim rechten Parteiflügel anbiedern und im Hinblick auf die Europawahlen im Juni etwas Boden gutmachen. Durch seine Kehrtwendung hat er genau das Gegenteil erreicht. Sämtliche Zeitungen verglichen den Premierminister mit dem Herzog von York, der laut einem Kinderreim seine Truppen vor genau 200 Jahren zur Schlacht gegen die Franzosen auf einen Berg führte, nur um sie dann genauso schnell wieder hinunterzuführen.

Trotz Majors Umfaller ist kein Kabinettsmitglied vom rechten Flügel zurückgetreten, wie einige Beobachter erwartet hatten. Hinter vorgehaltener Hand sagte ein Minister: „Warum soll man das Schiff verlassen, wenn der Kapitän gerade über Bord geworfen wird?“ Es erscheint sicher, daß sich Major auf dem Parteitag im Herbst einer Kampfabstimmung stellen muß. Aussichtsreichster Konkurrent ist Industrieminister Michael Heseltine. Ralf Sotscheck