: Verheerender „Kinderbuchklassiker“
■ Betr.: „Erklärt sich selbst und be lehrt“, taz vom 19.3.94
[...] Mit einer Geschichtsvergewaltigung, wie sie hauptsächlich aus dem Realsozialismus bekannt ist, wird aus dem „Struwwelpeter“ ein Manifest politischer Revolte: der Suppenkasper als schlesischer Weber, das Streichholz als Frauenbewegung, ja, da scheut der Autor auch nicht davor zurück, den kinderverstümmelnden Schneider in die Tradition Wilhelm Weitlings (!) zu stellen. Gut gebrüllt, aber unredlich, ignorant und falsch. Denn vor lauter verbohrter Symbolsucherei kümmert sich Haarkötter keinen Deut um die Botschaften, die die Geschichten darbieten und die – immerhin ist der „Struwwelpeter“ als Kinderbuch gedacht – seit 150 Jahren den Kids etwas beibiegen sollen.
[...] Der „Struwwelpeter“ „preist Gehorsam und demonstriert an drastischen Beispielen Folgen des Ungehorsams“, so formuliert das Lexikon, und auch wenn Haarkötter sich über die Einordnung lustig macht: Das Buch ist Exponent der „schwarzen Pädagogik“, Ausfluß einer verlogenen und starren Gesellschaft, die Bewegung und Kritik erbittert bekämpft – auch die angebliche Kritik von Autor Hoffmann am gängigen Moralisieren in der Kinderliteratur hat ihn nur dazu gebracht, die allgegenwärtigen Drohungen durch Verbildlichung zu verschärfen. Die Bemühungen von PädagogInnen, AutorInnen und Buchhandel, eine positive, gewaltfreie und behutsam zu Eigenständigkeit anregende Kinderliteratur zu etablieren, werden durch Ideologen wie Haarkötter konterkariert. [...] Nils Kaczenski, Osnabrück
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