: Alte Stiefel in neue Portemonnaies verwandeln
■ Moskauer Handwerkerinnen-Zentrum bietet neue Jobs für arbeitslose Frauen
Moskau (taz) – Früher waren sie Ingenieurinnen, Elektronikerinnen oder auch Übersetzerinnen. Dann wurden sie im Zuge der Umstrukturierung der russischen Wirtschaft arbeitslos. An diese Frauen dachten Raissa Jemeljanowa und ein paar Mitstreiterinnen, als sie vor zwei Jahren die Initiative ergriffen und das Moskauer Handwerks-Zentrum (MZR = Moskowski Zentr Remesel) gründeten. Raissa Jemeljanowa, die heute Generaldirektorin der Firma ist, hatte damals schon eine bewegte Vergangenheit als Testpilotin hinter sich.
Von vornherein schlossen die Gründerinnen einen Vertrag mit dem Moskauer Departement für Arbeitsvermittlung. Sie verpflichteten sich darin, 300 Arbeitsplätze für offiziell als arbeitslos registrierte Frauen zu schaffen.
Bevor sie ihre neue Arbeit beginnen, müssen die meisten Frauen erst einmal neue Qualifikationen erwerben. Das MZR bietet daher Kurse zur beruflichen Umqualifizierung auf 17 verschiedene handwerkliche Spezialgebiete an, die meisten davon sind traditionelle Frauenberufe: Hand- und Maschinenstricken, Spitzenklöppeln, Pelzdesign, Gestaltung von Papiermaché, Herstellung von Lederwaren, Korbflechten, Stickerei und sogar für das Entwerfen und Anfertigen von Schuhen.
Es gibt hier auch Schülerinnen, die nur für den eigenen Hausgebrauch lernen. Viele wollen sich mit den neu erworbenen Fähigkeiten selbständig machen. Von ihnen wird eine Bezahlung der Kurse erwartet. Für die als arbeitslos Registrierten trägt das Departement für Arbeitsvermittlung die vollen Kosten.
Sich auf die neue Art von Arbeit einzustellen fällt den Frauen nicht immer leicht, und bei weitem nicht alle halten durch. Wer aber bleibt, ist mit Leib und Seele bei der Sache. Geradezu enthusiastisch ging es etwa bei dem Fest zu, das das Handwerks-Zentrum zum 8. März, dem Frauentag, veranstaltete. Da buken die Schusterinnen, fungierten die Schneiderinnen als Mannequins, und die Strickerinnen sangen zu Herzen gehende Lieder. Dabei ist die Arbeit im Zentrum kein Zuckerschlecken.
Raissa Jemeljanowa wundert sich mitunter selbst, daß ihre Manufaktur, der Rechtsform nach eine GmbH, nicht schon längst eingegangen ist. Eine drastische Besteuerung erschwert den Verkauf der Produkte zu konkurrenzfähigen Preisen. Der Verkaufspreis der in dem Zentrum hergestellten Waren setzt sich zu bis zu 90 Prozent aus diversen Steuern zusammen. Damit sich die Ware trotzdem verkaufen läßt, müssen sich die Handwerkerinnen mit Niedrigstlöhnen zufrieden geben.
Eine Strickerin zum Beispiel, die in Heimarbeit auf der Strickmaschine die Modelle der MZR- Designerinnen ausführt, erhält für ein Kleidungsstück fünf- bis siebentausend Rubel, nach offiziellem Kurs fünf bis sieben Mark. Der Monatslohn der Heimarbeiterinnen beträgt fünfzigtausend bis achtzigtausend Rubel – recht bescheiden bei einem geschätzten Durchschnittsverdienst von 170.000 Rubeln im Lande.
So kamen die Organisatorinnen des Handwerks-Zentrums auf die Idee, auch Kurse zur sparsamen Haushaltsführung zu veranstalten, die selbstredend ihrerseits Gebühren kosten. Besonders gut besucht sind beispielsweise Kurse für Lederdesign. Die Dozentin Tatjana Tschumanaki lehrt dabei, wie man alte Stiefel und Aktentaschen in neue Handtaschen, Broschen und Portemonnaies verwandelt.
Über das MZR können auch anderweitig ausgebildete Handwerksmeisterinnen ihre zu Hause hergestellten Erzeugnisse an die Frau oder an den Mann bringen. Um das Zentrum haben sich so beispielsweise Künstlerinnen zusammengeschlossen, die die traditionellen russischen Schatüllchen bemalen. Lena und Natascha Maximowa etwa versuchen dagegen, alte Techniken der Spitzen-Herstellung wiederzubeleben und die traditionellen Muster einzelner russischer Städte zu rekonstruieren, in denen wie in Jelez, Nishnij Nowgorod oder Wologda eine lange Klöppel-Tradition existiert.
Der größte Stolz des MZR ist allerdings ein Erzeugnis mit der Bezeichnung „dekorativer Hopfenzweig“. Diese aus winzigen Lederstückchen bestehenden Zweige finden bei der Wandgestaltung oder als Fensterdekoration Verwendung. Und obwohl ein einziger Zweig nicht unter 20 Dollar zu haben ist, finden sie in Geschäften und bei Büroausstattern reißenden Absatz.
Die Gründerinnen des Handwerks-Zentrums planen jetzt eine eigene, ständig geöffnete Verkaufsausstellung, auf der die Widerbelebung alter russischer Handwerke demonstriert werden soll. Und obwohl die Arbeiterinnen unter der Last ihres Alltags stöhnen, so bezweifelte doch keine, daß sie auch dieses Ziel erreichen werden. Irina Kortschagina
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen