: Star von Pinneberg bis Winsen
■ Gillian Scalicis Liederabend „By George!“ im St. Pauli-Theater
Es gehört zu den unbestreitbaren Zeichen des Niedergangs eines örtlichen Kulturlebens, wenn sich dort Kunstformen breitmachen, die regional so verwurzelt sind wie Fußball in den USA. Die Rede ist vom Musical, von dieser leistungssportlich inspirierten Art der Operette: Hamburg bietet Touristen schon das „Phantom der Oper“, „Cats“ und diverses mehr, was vor allem die Fremdenverkehrsplaner in den Hamburger Behörden freut. Ihre heimliche Heldin, die Protagonistin einer Musicalepidemie in Hamburg heißt Gillian Scalici.
Ende der siebziger Jahre kam sie nach Hamburg, man brauchte sie für das Stück „West Side Story“, das damals an der Staatsoper als Ausweis hanseatischer Metropolitanität gegeben wurde. Scalici hätte danach wieder nach Hause gehen können? Aber weshalb sollte sie? Am Broadway liefen hunderte von Frauen ihres Kalibers herum - in Hamburg war sie hingegen ohne Konkurrenz: Ausgerüstet mit einer klinisch reinen Stimme, die etwa zweieinhalb Oktaven umfaßt und als verwechselbar bezeichnet werden darf, so timbrelos, wie sie klingt; ausgerüstet auch mit der amerikanischen Art des Showtanzes, step by step, immer schön geometrisch exakt vor oder hinter der Chorus Line, der Demarkationslinie zwischen Star und Sternchen.
Seit anderthalb Jahrzehnten also kultiviert sie in dieser Stadt einen Status, der ihr bereitwillig von allen Boulevardblättern geglaubt wird: Ich bin ein Star. Vor etwa zehn Jahren muß ihr Fleisch welker, muß sie eingesehen haben, daß ihre Bemühungen um einen echten Ruf „Back to Broadway“ scheitern würden. Also gründete sie in Hamburg die „Stage School of Dance and Drama“. Seitdem produziert sie dort einen Shownachwuchs, der sich gleicht wie ein Ei dem anderen: Gillians Jünger und Jüngerinnen.
Im St. Pauli-Theater zeigt die Amerikanerin nun, daß ihre Berühmtheit nicht umsonst nur von Pinneberg nach Buxtehude und von Glinde bis Winsen an der Luhe reicht: Einen Ton halten kann sie, jaja. Aber ihr Programm aus Ger-shwin-Versatzstücken, das sie schon für Entertainment halten wird, bewies wieder nur das Vorurteil, daß Amerikanisches letztlich immer wie Tütensuppe daherkommt. Hier ein kleines müdes Scherzchen, dort ein Schäkerchen mit einem Herren aus der ersten Reihe: „Haben Sie Angst vor mir?“ Nein, bei Ms. Scalici hat man nur Respekt vor soviel technischem Können: Ein Geheimnis umweht sie nicht, nicht einmal eine krumme Nase hat sie, unter der sie leiden könnte. Frau Scalici leidet nicht, sie singt nur, die Tonleiter rauf und wieder runter - auf Bestellung auch zu Autohaus-Jubiläen. Touristen mögen so etwas: Es ist nicht so derb wie die Darbietungen im „Tivoli“ und nicht so gebildet wie Aufführungen - beispielsweise - im Theater im Zimmer.
Es verbreitet nur das Flair, daß der Broadway bis Hamburg reicht. Scalici ist das makelloseste Marketing-Argument Hamburgs in eigener Sache. Aber was macht es schon? Wirklich gefährlich kommt sie niemandem. Und wer kann das schon von sich behaupten?
Helen Fohlin
St. Pauli-Theater bis 24. 4.,
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