■ Blutbad unter Zivilisten in Ruanda
: Mehrere hundert Angehörige westlicher Staaten kamen am Wochenende auf der Flucht vor dem Bürgerkrieg im ostafrikanischen Ruanda in Burundis Hauptstadt Bujumbura an. Sie wurden Zeugen eines Massakers...

Mehrere hundert Angehörige westlicher Staaten kamen am Wochenende auf der Flucht vor dem Bürgerkrieg im ostafrikanischen Ruanda in Burundis Hauptstadt Bujumbura an. Sie wurden Zeugen eines Massakers mit Tausenden Toten.

Blutbad unter Zivilisten in Ruanda

Erschöpft sehen die Deutschen, Schweizer, Belgier, Amerikaner und meisten anderen Ausländer aus, die aus der umkämpften ruandischen Hauptstadt Kigali im Nachbarland Burundi eintreffen. In langen Fahrzeugkonvois, organisiert von der US-Botschaft in Kigali, ist mehreren hundert am Samstag die Flucht vor dem Bürgerkrieg gelungen. Noch immer jedoch sind zahlreiche Ausländer in ihren Häusern in Kigali eingeschlossen, die anhaltenden schweren Kämpfe machen es ihnen unmöglich, zu einem der Sammelpunkte für eine Evakuierung zu gelangen.

Keiner der Flüchtlinge hatte in den letzten Tagen die Möglichkeit, sich selbst ein umfassendes Bild von der Situation in Ruanda zu machen. Radio- und Funkgeräte sowie Ferngläser bildeten den einzigen Kontakt zur Außenwelt, seit am Mittwoch abend die Präsidenten Ruandas und Burundis, Juvénal Habyarimana und Cyprien Ntaryamira, einem Flugzeugabsturz zum Opfer gefallen und unmittelbar danach schwere Kämpfe in Kigali ausgebrochen waren. Schon nach wenigen Stunden brachen in vielen Vierteln Telefonleitungen, Strom- und Wasserversorgung zusammen. „Wir haben immer wieder Schüsse und schwere Artillerie um unser Haus herum gehört“, berichtet Lehrer Greg Beck aus den USA. „Aber wir wissen nicht, wer gegen wen kämpft.“ Der deutsche Agrarökonom Claus Ritsche, der für eine Schweizer Hilfsorganisation arbeitet, hat mit einem Fernglas gegenüberliegende Straßen beobachtet: „Ich habe mehrmals gesehen, wie Gruppen Zivilisten einen einzelnen durch die Straßen hetzten und niederschlugen. Zum Schluß kam dann jeweils ein Uniformierter und verpaßte ihm den Todesschuß.“

Aus den Bruchstücken verschiedener Berichte und Informationen ergibt sich ein Szenario des Grauens: Zerstückelte Leichen sollen überall in den Straßen liegen. Augenzeugen berichten, wie die Einwohner ganzer Viertel von Militärs zusammengetrieben und mit Salven aus Maschinenpistolen niedergemäht wurden. In anderen Fällen sollen Hausangestellte, die zur Minderheit der Tutsi gehören, vor den Augen ihrer europäischen Arbeitgeber aus den Häusern gezerrt und erschossen worden sein. „Letzte Nacht sind in Kigali alle Tutsi und alle Oppositionellen, die man finden konnte, ermordet worden“, sagt ein Diplomat in Burundis Hauptstadt Bujumbura. Insgesamt schätzt das Internationale Rote Kreuz die Zahl der Todesopfer auf mehr als 10.000.

Die unübersichtliche Situation und die Fülle einander widersprechender Gerüchte heizen die Stimmung in Kigali zusätzlich auf: „Wir wurden bei der Evakuierung mehrfach auf der Straße von Militärs angehalten und gefragt, ob wir Belgier seien“, erzählt der niederländische Entwicklungsexperte Paul de Roo. „Die Soldaten haben gesagt, sie wollten alle Belgier töten, weil diese ihren Präsidenten umgebracht hätten.“ Die genauen Umstände des Flugzeugabsturzes vom Mittwoch vergangener Woche sind noch immer ungeklärt. Es verdichten sich allerdings Hinweise, denen zufolge die ruandische Präsidentengarde selbst ihren Dienstherrn mit einem Raketenangriff ermordet hat.

Die politische Situation in Ruanda war seit Monaten gespannt gewesen: Nach dreijährigem Bürgerkrieg war im letzten August in der tansanischen Stadt Arusha ein Friedensvertrag zwischen der Regierung Habyarimanas und der Rebellenbewegung RPF (Patriotische Front Ruandas) unterzeichnet worden, der die Bildung eines gemeinsamen Kabinetts, zusammen mit Politikern der Opposition, vorsah. Angesichts anhaltender Auseinandersetzungen um die Zusammensetzung der neuen Regierung jedoch hatten Beobachter schon vor dem Tod Habyarimanas am Bestand des Abkommens gezweifelt. Diplomaten halten es für wahrscheinlich, daß Ruandas Präsident von Gegnern in den eigenen Reihen ermordet worden ist, die eine Teilung der Macht mit der einzigen Guerrilla-Bewegung prinzipiell ablehnen.

Die Krise in Ruanda wird immer wieder als ethnischer Konflikt zwischen dem jahrhundertelang herrschenden Minderheitsvolk der Tutsi und der Bevölkerungsmehrheit der Hutu dargestellt, die kurz vor der Unabhängigkeit von Belgien im Jahre 1962 die Macht übernommen hatten. Dieses Schema ist jedoch allzu grob gestrickt: Habyarimana war in den letzten Jahren auch mit wachsendem Widerstand unter den Hutu konfrontiert, die in großen Teilen eine Demokratisierung der Gesellschaft gefordert und 1992 die Einführung des Mehrparteiensystems erzwungen hatten. Auch wird die RPF zwar von Tutsi dominiert, in der Führungsspitze aber sind auch Hutu vertreten. Ein tiefverwurzeltes Zugehörigkeitsgefühl zu jeweils einer der beiden Bevölkerungsgruppen hat jetzt jedoch – wie auch schon mehrfach in der Vergangenheit – offenbar dazu geführt, daß ethnisch begründetes Mißtrauen über politische Zwistigkeiten und Allianzen die Oberhand gewinnt.

In Ruanda waren nach dem Tod Habyarimanas ein neuer Präsident und ein neuer Premierminister ernannt worden – ein klarer Bruch des Abkommens von Arusha, in dem der designierte Premierminister festgeschrieben worden war. Dessen Aufenthaltsort ist unbekannt, Gerüchten zufolge soll er von UNO-Truppen in Sicherheit gebracht worden sein, die in Kigali stationiert sind. Die RPF hat angesichts der Entwicklung den Friedensvertrag von Arusha aufgekündigt und steht nach eigenen Angaben mit 4.000 Mann vor Kigali.

Noch vor wenigen Tagen hätte es kaum jemand für möglich gehalten, daß ausgerechnet Burundi als Zufluchtsort für Flüchtlinge ausgesucht werden würde. Denn auch hier haben politische Spannungen in den letzten Monaten Zehntausende von Todesopfern gefordert. Erst vor drei Wochen sind in der Hauptstadt erneut mehrere hundert Einwohner massakriert worden. Zur Überraschung vieler Beobachter jedoch ist die Lage in Bujumbura nach dem Tod von Präsident Cyprien Ntaryamira ruhig geblieben. Diplomaten führen das vor allem darauf zurück, daß in Burundi Politiker aller Richtungen davon überzeugt sind, das Attentat habe Habyarimana gegolten, die Anwesenheit Ntaryamiras sei lediglich ein unglücklicher Zufall gewesen. „Offiziell wird hier von einem Unfall gesprochen, und es wird betont, daß er sich außerhalb der Grenzen Burundis ereignete“, erklärt eine Diplomatin.

Noch in der Nacht zum Donnerstag hat Parlamentspräsident Silvester Tibantunganya die Amtsgeschäfte übernommen. In Übereinstimmung mit dem Generalstab wurden Offiziere gemeinsam mit Parlamentariern und Gouverneuren in die einzelnen Provinzen des Landes geschickt, um dort Gemeindevertretern die Lage zu erklären und zur Ruhe zu mahnen.

Burundis Präsident Cyprien Ntaryamira war erst seit Februar im Amt – er war Nachfolger des bei einem gescheiterten Militärputsch im Oktober ermordeten Präsidenten Melchior Ndadaye, mit dem in freien Wahlen zum ersten Mal ein Vertreter der Hutu-Mehrheit an die Spitze des Staates gelangt war. Anders als in Ruanda hat in Burundi die Tutsi-Minderheit auch nach der Unabhängigkeit die Macht bis zum letzten Jahr behalten können. Seit dem Wahlsieg der von Hutu beherrschten Demokratischen Front Burundis (Frodebu) im Sommer 1993 hatten Teile des Tutsi-dominierten Militärs und Vertreter kleiner Minderheitsparteien den Machtwechsel bekämpft.

Der Ausgang der politischen Krise ist auch in Burundi noch offen. Am Mittwoch, dem Tag des Flugzeugabsturzes, hatten Politiker der radikalen außerparlamentarischen Opposition mit der Androhung eines Generalstreiks und weiterer Protestaktionen neue Verhandlungen erzwungen und einen beachtlichen Erfolg erzielt: 40 Prozent aller Kabinettsmitglieder, Botschafter, Gouverneure, Bürgermeister, Geheimdienstler und hoher Verwaltungsangestellter müßten mit Kandidaten der Opposition besetzt werden, darunter auch mit Mitgliedern von Parteien, die angesichts zu geringer Stimmenzahlen nicht im Parlament vertreten sind. Die Armee hingegen, in der die Tutsi rund 90 Prozent aller Offiziersposten besetzen, ist von diesem Verteilungsschlüssel ausgenommen. „Damit ist der Staatsstreich erst scheibchenweise durchgeführt worden. Die Regierungsgegner sind am Ziel“, meint ein westlicher Beobachter.

Fraglich ist allerdings, ob dieses Abkommen nach dem Tod von Präsident Ntaryamira Bestand haben wird. Ohnehin schreibt die Verfassung Burundis Wahlen innerhalb von drei Monaten nach dem Zeitpunkt vor, zu dem das Verfassungsgericht offiziell das Ableben des Staatsoberhauptes bestätigt hat. Die weiterhin instabile Lage läßt es jedoch unwahrscheinlich erscheinen, daß ein Urnengang abgehalten werden könnte. Hier liegt der Stoff für neue Konflikte in naher Zukunft.

Noch aber herrscht in Burundi Staatstrauer. Die Leiche des getöteten Präsidenten ist noch nicht in Bujumbura eingetroffen. Auch in diesem zentralafrikanischen Staat aber könnte gegenwärtig Ruhe vor dem Sturm herrschen: An der Universität sollen Tutsi-Studenten von Soldaten allabendlich militärisch trainiert werden. In Hutu-Wohnvierteln haben angeblich auch Zivilisten inzwischen geheime Waffenlager eingerichtet. Wie labil die Lage ist, zeigte sich bei Ankunft der Flüchtlinge aus Ruanda: Bei der Fahrt durchs nächtliche Bujumbura wurde ein Konvoi beschossen, Militärs mußten anschließend die Weiterfahrt sichern. Bettina Gaus,

Bujumbura (Burundi)