Wann nehmen die Serben Goražde?

■ Neue Angriffe auf muslimische Enklave in Ostbosnien / Panik unter der Zivilbevölkerung

Genf (taz) – Die bosnischen Serben haben am Wochenende ihre Artillerieangriffe auf die ostbosnische Stadt Goražde verstärkt. Schon am Sonntag nachmittag wurde mit der baldigen Einnahme der muslimischen Enklave gerechnet, in der sich zur Zeit rund 65.000 Menschen aufhalten. Bereits am Samstag hatten die Serben einen Teil des oberhalb Goraždes gelegenen Bergs Gradina besetzt. Im Süden Goraždes nahmen sie mindestens zwei Dörfer ein. In den südlichen Stadtteilen Goraždes brach daraufhin eine Panik aus, sagte ein Sprecher des UN-Hochkommissariats für Flüchtlinge. Mehr als 1.500 Menschen seien geflohen.

Dementiert wurde von den UN-Schutztruppen dagegen Meldungen, wonach Goražde von den serbischen Truppen mit Giftgas angegriffen worden sei. Es habe sich dabei wahrscheinlich um Rauchbomben gehandelt. Die bosnische Regierung hatte zuvor erklärt, bei Giftgasangriffen der bosnischen Serben auf Vororte Goraždes seien „viele Menschen“ getötet worden. Aus Protest gegen den vermutlichen Giftgaseinsatz bei Goražde kam es in mehreren türkischen Großstädten zu spontanen Demonstrationen.

UNO und Nato mühten sich am Wochenende um den Eindruck, sie seien entschlossen, die anhaltenden schweren Angriffe serbischer Truppen auf Goražde und die unmittelbare Belagerung der Stadt zu beenden. UNO-Generalsekretär Butros Ghali forderte am Samstag in Genf die serbischen Truppen zum Rückzug in die Stellungen auf, die sie vor Beginn ihrer jüngsten Offensive gegen die Stadt am 29. März einnahmen. Zudem „instruierte“ Ghali die Unprofor-Truppen, zwecks Herbeiführung eines serbischen Rückzuges „alle Mittel“ einzusetzen, die durch die bisherigen Bosnien-Resolutionen des UNO-Sicherheitsrates erlaubt sind. Nach einem mit Kostenargumenten begründeten Veto der USA gegen eine schnelle Entsendung von Unprofor-Truppen in der letzten Woche sollen jetzt frühestens Ende April bis zu 800 ukrainische UNO-Soldaten in die Region Goražde verlegt werden. Ghalis Sprecherin Gastaut erläuterte, daß unter die Formulierung „alle Mittel“ auch der Einsatz von Luftstreitkräften falle. Der Nato-Oberkommandierende, US- General Joulwan, erklärte die Bereitschaft, auf Anforderung der UNO Flugzeuge bereitzustellen.

Bis heute nachmittag sollen sich die Militärführer der Serben und der bosnischen Regierungsarmee, Mladić und Delić, zu einem von der UN vorgelegten Waffenstillstandsplan äußern. Die Verhandlungen waren am Samstag unterbrochen worden, weil der serbische Militärführer Mladić keiner Vereinbarung zustimmen wollte, die auch einen Rückzug der serbischen Truppen in ihre Stellungen vor Beginn der Offensive gegen Goražde vorsieht.

In Bonn haben am Sonntag rund 25.000 Menschen gegen die serbische Aggression in Bosnien demonstriert. In zwei Zügen marschierten die aus der ganzen Bundesrepublik, aus Westeuropa und den USA angereisten, überwiegend bosnischen Demonstranten auf den Münsterplatz. Andreas Zumach

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