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Nachschlag

■ Mauer im Kopf

In „Die kurze Zeit der Utopie“ geht es um die „vergessene“ Zeit 1989/90. Neben dem Herausgeber des Buches über die „zweite DDR“, Siegfried Prokop, hatten sich zur Präsentation am Mittwoch abend auch der ehemalige SED-Generalsekretär Egon Krenz und der letzte Volkskammerpräsident Günther Maleuda in der Stadtbibliothek eingefunden. Ihre Positionen sind ebensowenig einmütig wie die der anderen Autoren des Essaybandes (u.a. Michel Aymerich, Carola Wuttke und Gabriele Lindner), in einem Punkt jedoch wird immer wieder ein Konsens erzielt: die Vereinnahmung der DDR durch den Westen.

Zunächst war die Haltung auf dem Podium wissenschaftlich: Aymerich konstatierte, daß das „Neue Denken“ in der UdSSR schon 1987 eine Wendung gen Westen vorsah, was von der DDR nicht geteilt wurde. Dann aber sprach Egon Krenz, und die Emotionen schlugen hohe Wellen. Daß er mit der Grenzöffnung im November 1989 nicht das Ende der DDR habe auslösen wollen, traf den Nerv der zahlreich Erschienenen genau. Fragen an „Genosse Egon“ und Sympathiebekundungen waren ein großes Bedürfnis. Scharf wehrte sich Krenz an diesem Abend gegen den „Anschluß“ und Begriffe wie „DDR-Nostalgie“, die These vom „Unrechtsstaat“, die Gleichstellung der DDR mit dem Faschismus und den „verordneten Antifaschismus“. Diese Behauptungen stammten seiner Meinung nach von den „Siegern“, denen, die in der DDR nicht gelebt hätten. In der später folgenden Diskussion forderte Krenz zudem noch Reparationszahlungen der BRD an die DDR ein. Günther Maleuda beklagte die Verletzung des Grundlagenvertrages durch die Erfurter Wahlveranstaltung Helmut Kohls am 20.2. 1990, auf der die Chance einer Demokratisierung vertan worden sei. Ein Spartakist aus dem Publikum wurde richtig wild und sprach von westlicher „Auschwitz- Bourgeoisie“. Die traurige Erkenntnis des Abends: Die vielzitierte „Mauer in den Köpfen“ gibt es tatsächlich. Katja Winckler

Siegfried Prokop (Hrsg.): „Die kurze Zeit der Utopie“, Berlin 1994, 29,80 DM (ElefantenPress)

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