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Ein zähes Pflänzchen

Keine Zeitung hat sich in den vergangenen fünfzehn Jahren so radikal verändert wie die taz  ■ Von Michael Sontheimer

Es war exakt vor fünfzehn Jahren, am 15. April 1979, in den Redaktionsräumen in der Wattstraße im tristen Berliner Wedding. Wir, die wir einen Tag später damit beginnen wollten, fünfmal die Woche eine Zeitung zu produzieren, hatten es leider nicht geschafft, eine unserer zehn Nullnummern innerhalb eines einzigen Tages herzustellen. Einen Tag vor dem Start sollte deshalb der Ernstfall simuliert werden. Doch in dem Raum, in dem mehr als zehn Schreibtische standen und theoretisch drei Ressorts arbeiten sollten, fand ich mich allein mit einem einzigen weiteren Redakteur in spe, mit Max Thomas Mehr.

Das Wetter war wunderschön, und unsere lieben Kolleginnen oder Kollegen hatten es offensichtlich vorgezogen, sich im Grünen zu entspannen. „Glaubst du, daß man mit diesem Haufen eine Tageszeitung machen kann?“ Max antwortete: „Ich weiß nicht.“ Wir waren einigermaßen verzagt.

Man konnte doch – wie sich in den folgenden Wochen, Monaten und Jahren zeigte. Tag für Tag. Inzwischen sind viertausendzweihundertneunzig Ausgaben erschienen. Trotz Streiks, Besetzungen und heftigster interner Auseinandersetzungen fiel seit dem Frühjahr 1979 keine einzige Nummer aus.

Als ich vor über zwei Jahren von der Zeit, für die ich sieben Jahre gearbeitet hatte, zur taz zurückkehrte, wurde ich nicht nur in der Redaktion immer wieder gefragt, warum ich denn zurückgekommen sei. Weil Abwechslung gelegentlich sein müsse, pflegte ich zu antworten. Manchmal räumte ich auch ein, daß es wohl jeden Journalisten reize, einmal in seinem Berufsleben als Chefredakteur zu arbeiten. Der entscheidende Grund für meine Rückkehr war allerdings, daß ich die taz für politisch und medienpolitisch so wichtig halte und hielt, daß die Notwendigkeit, sie endlich auf eine wirtschaftlich solide Basis zu stellen, in jedem Falle einen Versuch wert sein sollte.

Die Welt verändern oder interpretieren?

Die taz ist der publizistische Ausdruck des gesellschaftlichen Bruches von 68. Gegründet und anfangs gemacht wurde sie von ein paar Achtundsechzigern und vor allem von der Generation, die unter dem Etikett Alternativbewegung Ende der siebziger Jahre reüssierte – und zu der ich gehöre.

Sie ist die Zeitung einer Gegenkultur und sozialer Bewegungen, deren politischer Ausdruck die Grünen waren, die ein Jahr später als die taz gegründet wurden. Die Rückkehr zur taz war also eine Art Heimkehr. Ich hatte die wilden Anfangsjahre von 1978 bis 1983 miterlebt, und es reizte mich auch zu sehen, wie sich in der Zwischenzeit die Atmosphäre, die Diskussionen und das Selbstverständnis in der Redaktion verändert hatten.

Nach über zwei Jahren, nunmehr im Rudi-Dutschke-Haus im alten Berliner Zeitungsviertel, ist zunächst festzuhalten, daß es keine Zeitung in Deutschland gibt, die sich innerhalb von fünfzehn Jahren so radikal verändert hat wie die taz. Zum Teil waren dies für das schlichte Überleben notwendige und bewußt vollzogene Veränderungen, zum Teil setzten sie sich schleichend hinter dem Rücken der Beteiligten durch.

In ihren ersten Jahren war die taz viel mehr als eine Zeitung. Sie war ein soziales Experiment des selbstverwalteten, kollektiven Arbeitens, der Versuch, die Trennung zwischen Hand- und Kopfarbeit, zwischen Arbeiten, Leben und dem politischen Kampf aufzuheben. Geldverdienen beispielsweise spielte in diesem Laboratorium für anderes Arbeiten bei einem Einheitslohn von 800 Mark netto nicht die geringste Rolle.

Als wir die taz gründeten, revidierten wir die Marxsche These, nach der es nicht mehr darum gehe, die Welt zu interpretieren, sondern sie zu verändern: Wir hatten vor dem Hintergrund der Berufsverbote, des nichterklärten Bürgerkrieges gegen die RAF und der Aufrüstung des Atomstaates ziemlich hautnah die Erfahrung gemacht, daß es unmöglich war, die Welt in Gestalt der BRD radikal zu verändern, also interpretierten wir sie und propagierten wenigstens ihre Veränderung. Die Zeitung wurde als politisches Instrument begriffen, als Propagandawerkzeug der sozialen Bewegungen, um in die etablierte Öffentlichkeit hineinzuwirken. Darüber hinaus diente sie als Kommunikationsmittel der Dissidenten verschiedenster Provenienz.

Wenn ich heute die ersten Nummer wieder lese, fällt mir auf, wie homogen das Milieu war, von dem und für das die Zeitung gemacht wurde. Unentwegt ist da mit größter Selbstverständlichkeit von einem „Wir“ die Rede; die radikale Selbstreferenzialität der Beiträge erweckt den Eindruck, als hätten wir damals vor allem für uns selbst und ein paar befreundete Wohngemeinschaften geschrieben sowie für den Verfassungsschutz und vereinzelte weitere Voyeure, die in Erfahrung bringen wollten, was in der alternativen Subkultur gedacht und getan wurde. „Politik von unten“ hieß unsere Devise, ein Büro in Bonn gab es nicht. Betroffenenberichte, denn „nur im Wortlaut wird das Wort laut“. Viel Ausland und viel Ökologie, wenig Kultur, wenn, dann Gegenkultur, kein Sport, keine Lokalteile, täglich nur 12 engbedruckte Seiten. In der Redaktion diskutierten wir damals fast nie über die Zeitung und ihre Qualität, dafür um so leidenschaftlicher über politische Positionen.

Überraschende Karrieren

Kaum erschien die taz täglich, war beispielsweise das Ökologieressort, dem ich damals angehörte, harter interner Kritik ausgesetzt, was die Berichterstattung über den Widerstand gegen die Atomanlagen in Gorleben anging. Während wir in der Berliner Zentralredaktion die lokale Bürgerinitiative mit ihrem Konzept des gewaltlosen Widerstands publizistisch unterstützten, favorisierte eine radikalere Fraktion der taz Hannover den militanten Widerstand, der von Autonomen in den Großstädten propagiert wurde.

Meine damaligen linksradikalen Widersacher haben der taz schon lange den Rücken gekehrt. Einer arbeitete anschließend für Transatlantik und das Männermagazin Lui, eine andere ist nach einem Ausflug zur Bunten bei Cosmopolitan tätig, und ein dritter verdingte sich zunächst bei Springer und ist inzwischen Redakteur bei Focus. Wie der Chefredakteur dieses Kurznachrichtenmagazins mir unlängst erzählte, eröffne der einstige Linksradikale seine Beiträge auf der Redaktionskonferenz gerne mit den Worten: „Ich bin kein Linker, aber...“

Solche Karrieren, die ich vor fünfzehn Jahren für absolut ausgeschlossen gehalten hätte, lassen sich wohlfeil als Verrat geißeln oder als Indiz dafür nehmen, daß viele Journalisten letztlich Mietgehirne sind, deren einziges ehernes Prinzip der Opportunismus ist. Für jemanden, der wie ich anfangs im taz-Spektrum eher als Pragmatiker, Liberaler oder Rechtsabweichler angesehen wurde, bedurfte es nur einer gewissen Beharrlichkeit, um von mehr und mehr Kolleginnen und Kollegen rechts überholt zu werden.

In den ersten Jahren der taz gehörte ich zu denen, die eine Professionalisierung der Arbeit forderten, die glaubten, daß die Unterscheidung zwischen „bürgerlichem“ und „alternativem“ Journalismus einen nicht davon befreit, auch zwischen guten und schlechten Artikeln zu differenzieren, oder die beispielsweise für eine Trennung von Berichten und Kommentaren, von Information und Meinung, plädierten.

Heute hingegen sehe ich eine der größten Gefahren für die taz darin, in eine konventionelle Professionalität zu verfallen, die sie immer weniger von den etablierten liberalen Zeitungen unterscheidet. Für die taz entscheidende Momente wie Ironie, Leidenschaft, Unmittelbarkeit oder Subversivität drohen auf der Strecke zu bleiben. Selbstverständlich müssen im Journalismus die Fakten stimmen und die Recherchen seriös sein, aber die taz muß gleichzeitig sowohl formal als auch inhaltlich, ästhetisch wie auch politisch anders sein – oder sie muß gar nicht sein.

Was die politischen Positionen und Haltungen anbelangt, erscheint mir die Zeitung, die wir derzeit machen, oft zu unentschieden, zahm, ja resigniert. Statt ihrer vordringlichen Aufgabe als unabhängiges Oppositionsblatt nachzukommen und die herrschenden Verhältnisse und Parteien ebenso klug wie hartnäckig in Frage zu stellen und zu kritisieren, hackt die taz zu oft auf einer kaum noch existierenden Restlinken herum. Die etablierte Konkurrenz beeinflußt uns ebenso stetig wie unmerklich.

War die taz anfänglich ein Medium zum Zwecke der politischen Veränderung, das sich zuwenig als Zeitung begriff, so genügt sie sich heute zu sehr als Zeitung. Inzwischen kommen die Kolleginnen und Kollegen, die bei der taz anfangen, nicht mehr aus Basisgruppen oder Bürgerinitiativen, sondern aus Journalistenschulen. Das Beherrschen des Handwerks macht manches einfacher, aber es kann politischen Willen nicht ersetzen. Vor diesem Hintergrund wundert es allerdings nicht, daß sich seit Jahren keine Staatsanwälte und Staatsschützer mehr in die Redaktion verirrt haben, um in unseren Papierkörben nach inkriminierten Dokumenten zu suchen. Während ich mir 1980 als presserechtlich Verantwortlicher innerhalb eines Monats drei Strafverfahren eingefangen hatte, waren es in den letzten zwei Jahren ganze zwei.

Auf etlichen der unentwegt bei uns eintreffenden Bewerbungen beigelegten Fotos sind junge Männer in Schlips und Kragen zu sehen. Daß die taz jemals als Karrieresprungbrett betrachtet werden könnte, hätten wir uns vor fünfzehn Jahren auch nicht träumen lassen. Gelegentlich lästern wir in der Chefredaktion, daß in Zeitungen üblicherweise die Redaktionen eher links oder radikal und die Chefredaktion und die Verlagsleitung eher konservativ sind, „nur bei uns ist es umgekehrt“. Das ist überspitzt formuliert, aber auch ernst gemeint. In jedem Fall ist unsere Perspektive beschränkt, der Blick aus der Chefredaktion ist notgedrungen befangen und oft betriebsblind.

Ich halte die taz trotz aller (Selbst-)Kritik nach wie vor für die lebendigste und zukunftsweisendste deutsche Tageszeitung. Nicht umsonst haben wir den größten Anteil von jungen Leserinnen und Lesern aller Tageszeitungen.

Die taz ist die einzige Tageszeitung, in der ebenso viele Frauen wie Männer arbeiten. Sie ist die einzige erfolgreiche Neugründung einer Tageszeitung in Westdeutschland seit der Bild; und sie wurde nicht von einem Verlag auf den Markt geworfen, sondern von Hunderten von enthusiastischen Laien aufgebaut. Seit zwei Jahren ist sie die einzige größere Zeitung, die von einer Genossenschaft herausgegeben wird. Zum Glück wurde sie damals nicht an einen großen Verlag verkauft, dessen Manager sie zu einem profitcenter degradiert und möglicherweise schon abgewickelt hätten.

In ihrem Gründungsjahr 1979 hatte die taz eine Auflage von rund 20.000, fünfzehn Jahre später sind es über 60.000. Sie ist beständig in mehr oder (wie derzeit, aber wie lange noch?) weniger großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten, doch Totgesagte leben bekanntlich länger. Nicht zuletzt dank ihrer Leserinnen und Leser erscheint die taz nahezu unsterblich. Ein zähes Pflänzchen ist sie geworden.

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